Christian - Tag 304

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Sie wird mir zuhören und sieht angespannt, aber nicht furchtsam aus. Dafür habe ich Angst, spätestens seit dem Gespräch mit Ray heute Morgen. Ich hab mehr als nur ein wenig Scheiße gebaut, und Ray hat zwar recht ruhig reagiert, aber er war eher wütend als entsetzt, als er die Umstände erfahren hatte, die zu meiner Trennung geführt haben. Ich habe einige unangenehme Wahrheiten schlucken müssen, und Ray ist normalerweise nicht ein Mann vieler Worte.

Immerhin hat er Ana dazu bewegen können, mit mir zu reden. Etwas, was ich ihm hoch anrechne. Ich bin schuld, dass er gerade erst die Gelegenheit hatte, seinen Enkel kennenzulernen und zudem, dass seine Tochter schwanger und zutiefst verzweifelt, nach seinen Worten, sogar vor ihm das Weite suchte, um sich am Ende der Welt zu verkriechen.

„Ich hatte schon ein paar Tage vorher Kopfschmerzen, die recht lästig waren, und ging zu einem Arzt, weil es immer schlimmer wurde. Ich wollte eigentlich nur ein Medikament organisieren, und landete dann im Computertomographen. Der Arzt verschrieb mir nichts, sondern bat mich zum Gespräch. Sie hatten einen Tumor in meinem Gehirn entdeckt, der schon ziemlich groß war, und offensichtlich die Kopfschmerzen verursachte. Ich bekam Blut abgenommen, zahlreiche Untersuchungen und überlegte noch, wie ich es dir sagen sollte, als Ray verunglückte. Du warst in heller Sorge um deinen Vater, also wollte ich dich nicht zusätzlich beunruhigen. Ich erspare dir besser die ganzen Details, die Unterlagen wurden zu zwei anerkannten Spezialisten geschickt und am Tag nach Rays Unfall hatte ich Gewissheit. Der Tumor galt als inoperabel, und würde über kurz oder lang mein vegetatives Nervensystem betreffen. Atmung, Muskelkontrolle, all solche Dinge. Meine Prognose war düster, mit einer Chemotherapie vielleicht noch ein Jahr, ohne Chemo nur ein paar Monate, höchstens ein halbes Jahr. Aber beide Experten waren sich einig, dass sie keinen Weg sahen, den Tumor zu entfernen, ohne mich dabei ebenfalls zu töten. Außerdem wussten sie nicht, wann die ersten Ausfälle auftauchen und wie diese aussehen würden. Atemnot? Lähmungen? Ana, ich verlor komplett die Kontrolle. Vollständig. Nur war mir das damals nicht bewusst."

Ich werfe meiner Frau einen Blick zu, aber sie starrt mich nur an, mit einem Blick, den ich nicht einordnen kann. Nicht einordnen will, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will. Aber sie ist noch da und hört mir zu.

„Ich wartete, bis es Ray besser ging, und begann derweil zu planen, was zu tun wäre. Da mein Tod offensichtlich beschlossene Sache war, wollte ich sicherstellen, dass du versorgt bist. Und je länger ich dich bei Ray beobachtete, desto mehr wollte ich dich davor schützen, mir beim Sterben zuzusehen. Du solltest, wenn du dich an mich erinnern würdest, keinen Krüppel vor Augen haben. Und du solltest davon unbelastet weiterleben können. Auch die Firma musste geschützt werden, zumindest für die Zeit, in der ich nicht in der Lage sein würde, bis zu, na ja, du weißt schon, mich darum zu kümmern, um die Geier abzuhalten. Alle Welt sollte bis zum Schluss nicht wissen, was los ist, damit auch du und die Familie nicht in das Zentrum von Aasgeiern und der Medien geraten würdet. Außerdem würde ich Hilfe brauchen, und ich fand sie in Ambers Vater. Er würde die Firma kommissarisch führen. Kurz und gut, es wurden Verträge geschlossen, Abkommen besiegelt, alles im Eiltempo und ich hatte kaum Zeit zum Nachdenken. Ich brauchte aber jemanden, der mir bei der Presse helfen würde, und da kam Elena ins Spiel. Sie hat gute Kontakte und nach einigen Überlegungen schlug Melrose seine Tochter Amber vor, als Intensivkrankenschwester war sie geschult, mir zu helfen, und als seine Tochter vertrauenswürdig genug, um alle zu täuschen."

Ana atmet zischend ein und eine Träne läuft ihr über die Wange. Ich würde sie gern trösten, aber bei diesem Gespräch habe ich kein Anrecht darauf, ihr, ohne ein Entgegenkommen von ihrer Seite her, nahe zu kommen.

„Weiter", sagt sie rau und ich höre, wie sehr es sie trifft. Gott, ich wünschte, es wäre nicht so.

„Kurz gesagt, ich musste nur zwei Dinge tun, um alles in trockene Tücher zu bekommen. Dich wegschicken und die Presse mit falschen Informationen füttern, damit niemand darauf kam, dass ich krank sein könnte und von daher meine Firmen kommissarisch an Melrose übergab. Da er – in der Presse – der Vater meiner neuen Freundin war, war es ein Leichtes, hier ein paar geschickte Meldungen in der Wirtschaft zu verbreiten. Christian Grey, der dem vermeidlich zukünftigen Schwiegervater einige Posten zuschanzte, war glaubwürdig. Amber spielte mit, obwohl sie die ganze Zeit Bedenken hatte. Glaub mir, dich glauben zu machen, ich würde dich nicht mehr lieben und wieder mein altes Leben aufnehmen, hat mich alles gekostet. Aber du wärst bei mir geblieben, wenn du die Wahrheit gewusst hättest und bei den meisten anderen Gründen hättest du nachgebohrt. Es gab nur diesen Weg, Ana. Ich hab zu dem Zeitpunkt nur diesen Weg gesehen. Zudem war ich schon – durch die starken Kopfschmerzen – sehr angegriffen und gereizt und froh, dass ich es nicht an dir auslassen konnte. Sawyer sollte auf dich aufpassen, aber du warst so verdammt stur. So unabhängig. Du hast das Geld zurücküberwiesen, hast den Schutz nicht angenommen und bei SIP gekündigt. Ich wollte dich zu Rede stellen, aber ich traute mich nicht. Es hat mich alles gekostet, dich einmal anzulügen, nochmal hatte ich nicht die Kraft dazu. Außerdem würde mein Desinteresse daran meine Trennung von Dir untermauern, redete ich mir ein."

50 Shades of RegretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt