Kapitel 5

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„Hat eigentlich jemand die Polizei angerufen?", fragte ein blondes Mädchen. „Ja, das Netz ist zusammengebrochen. Man kommt nicht durch.", antwortete ein Junge. „Heißt das etwa, dass die Polizei gar nicht weiß, was hier passiert?" Das Mädchen sah Mr. Lee entsetzt an. „Soweit ich weiß, wird die Polizei automatisch benachrichtigt, sobald ein Alarm losgeht.", meinte dieser ruhig. Sie atmete erleichtert auf. „Dann sind sie bestimmt gleich da und holen uns hier raus." Ihre Stimme klang zuversichtlich. Hoffentlich hatte sie recht.

„Ich bin immer noch dafür uns bestmöglich zu schützen. Hat irgendjemand Waffen dabei?", mischte sich Chase ein, der mich herausfordernd ansah. Hat er nun völlig den Verstand verloren? Nur weil er seine dämliche Schutzmauer nicht fertigbauen durfte, will er uns alle in Gefahr bringen?

„Ja, ich habe ein paar Messer in meiner Schultasche.", sagte ein Junge. Die ganze Klasse sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wieso nahm eine Person gleich mehrere Messer mit zur Schule? Ich fand eins ja schon grenzwertig. Die Waffengesetzte in diesem Bundesstaat waren sowieso unmöglich. Wieso erlaubte ein Staat Schülern Waffen mit in die Schule zu bringen? Da war ein Amoklauf doch eine logische Folge. Der Staat machte es den Amokläufern doch richtig leicht in eine Schule einzudringen und ein paar Leute abzuknallen! Welcher Idiot hatte denn bitte dieses Gesetz beschlossen? Okay Zoe, komm mal wieder runter. Das rettet die Situation auch nicht., sagte ich mir selbst und konzentrierte mich wieder auf den Jungen, der die Messer dabeihatte.

„Messerwerfen ist mein Hobby und ich habe direkt nach der Schule Training.", erklärte er.

Bizarres Hobby. Wer wirft denn bitte gerne mit Messern auf eine Zielscheibe? Trotzdem war ich froh, dass er überhaupt eine Erklärung für die Messer hatte, denn einen Psychopathen konnten wir im Augenblick wirklich nicht gebrauchen.

„Das ist super! Kannst du die Messer holen?", fragte Chase. Ohne zu antworten stand der Junge auf, kletterte über die Mauer aus Tischen und kramte drei Messer aus seiner Schultasche hervor. Er kletterte wieder zurück auf unsere Seite der Mauer und gab eines der Messer an Chase und ein zweites an Mr. Lee weiter, das dritte Messer behielt er selbst. Um ehrlich zu sein, verstand ich nicht, was uns diese Messer bringen sollten. Es würde wohl kaum zu einem Zweikampf mit dem Amokläufer kommen.

„Um eines klarzustellen, wir werden den Amokläufer nicht angreifen, wenn er den Raum betritt. Er trägt vermutlich eine Schusswaffe und kein Messer bei sich. Wir haben also keine Chance gegen ihn. Wir werden diese Messer nur benutzen, wenn sich eine sehr günstige Gelegenheit ergibt. Habt ihr mich verstanden?" Mr. Lee sah Chase und den anderen Jungen mit einem eindringlichen Blick an. Dachte er wirklich, dass sich diese Idioten an irgendwelche Regeln hielten? Chase versuchte doch schon die ganze Zeit seinen eigenen Kopf durchzusetzen!

„Aber ich bin wirklich gut! Wenn ich aufstehe, kann ich ihn vermutlich treffen!", beschwerte sich der Junge. „Nein, du bleibst sitzen. Wenn du aufstehst, wird er vermutlich auf dich schießen. Es werden keine Messer geworfen. Hast du mich verstanden?", Mr. Lees Stimme duldete keinen Widerspruch. Der Junge nickte enttäuscht und steckte sich das Messer in die Hosentasche. Ich hoffte inständig, dass diese Ansage bei den beiden angekommen war und sie unsere Situation nicht noch verschlimmern würden.

Die nächste halbe Stunde verging ohne weitere Gespräche. Alle saßen einfach nur still auf ihren Plätzen und warteten, doch die erhoffte Entwarnung blieb aus. Der Lautsprecher predigte immer noch seine Sicherheitshinweise und von der Polizei fehlte bislang auch jede Spur. Ich war in der letzten halben Stunde alle Möglichkeiten, die wir hatten, nochmal in meinem Kopf durchgegangen und hatte mehrere Pläne gemacht, nur um sie kurze Zeit später wieder zu verwerfen. Es war einfach viel zu riskant einen dieser Pläne in die Tat umzusetzen. Uns blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass der Amokläufer von der Polizei überredet werden würde sich zu stellen. Doch ich war mir nicht einmal sicher, ob die Polizei überhaupt schon da war. Bisher hatte ich nämlich noch nichts von ihr gehört und normalerweise versuchte sie doch über den Lautsprecher Kontakt mit dem Amokläufer aufzunehmen, zumindest tat sie das in den Fernsehkrimis immer.

Wenn Mr. Lee recht hatte und die Polizei automatisch Bescheid bekam, war es also nur eine Frage der Zeit bis jemand kam und uns hier rausholte. Doch was wäre, wenn die Polizei nicht kommen würde. Durch die Stille, die seit geraumer Zeit herrschte, wurde meine Angst immer größer und meine Gedanken immer schlimmer. Ich malte mir immer wieder aus, wie es wohl sein würde, wenn der Amokläufer diesen Raum betreten sollte. Würde er etwas sagen oder würde er einfach direkt um sich schießen?

Um mich von meinen Gedanken abzulenken sah ich wieder zu Chase herüber. Er lehnte immer noch ganz entspannt an der Wand und blickte sich gelangweilt im Raum um. Diese Ruhe war wirklich faszinierend, jeder hier hatte Angst, nur er nicht. Zumindest zeigte er sie nicht offen. Ich wünschte er könnte mir etwas von seiner Ruhe abgeben oder sich mit mir streiten, das lenkte mich nämlich fantastisch von meiner Angst ab. Doch ich hatte das Gefühl, dass er mir diesen Gefallen leider nicht tun würde.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch vor der Tür und drehte panisch meinen Kopf in diese Richtung. Sie war immer noch zu. Was war das gewesen?

„Ash, hast du das auch gehört.", flüsterte ich. „Ja.", ihre Stimme war kaum hörbar, „Ich habe Angst, Zoe." Sie sah mich mit Tränen in den Augen an. „Was passiert hier? Ich habe solche Angst.", ihre Stimme klang hysterisch. Die Tränen liefen ihr in Strömen die Wangen hinunter und sie klammerte sich an meinem Arm fest.

Ich fühlte mich nicht fähig ihr zu antworten und starrte sie einfach nur an. Nicht zu wissen, was in den nächsten Sekunden passieren würde, war das Schlimmste. Stand der Amokläufer vor der Tür oder hatten wir uns dieses Geräusch in unserer Panik nur eingebildet? Was sollten wir tun, wenn er wirklich dort stand? Oh mein Gott, er wird uns alle töten!, schoss es mir durch den Kopf. Komm runter Zoe, komm runter!, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Doch es half nichts, ich begann am ganzen Körper zu zittern und die Tränen liefen mir unaufhaltsam über die Wangen.

Nach ein paar Sekunden wurde die Klinke heruntergedrückt und mein Blick flog zur Tür. Er war hier. Der Amokläufer stand nur ein paar Meter von uns entfernt an der Tür und musterte uns interessiert.

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