Kapitel 20

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Obwohl ich nicht sehen wollte welche Spuren Johns Waffe hinterlassen hatte, hob ich meinen Blick langsam und versuchte mich mental darauf vorzubereiten, was ich gleich sehen würde. Ich machte mich auf viel Blut und einen in sich zusammengesackten Mr. Lee gefasst.

Als meine Augen auf seinen reglosen Körper trafen musste ich einen Aufschrei unterdrücken. Das Blut lief in Strömen seinen Körper hinab und tropfte auf den Boden, sodass sich um ihn herum eine Pfütze bildete. Mr. Lees Kopf hing schlaff nach hinten und sein Körper begann langsam, aber sicher, vom Stuhl zu rutschen.

Ich konnte meinen Blick nicht von seiner Leiche abwenden. Die Wunde auf seiner Brust verreit, dass John ihn mitten ins Herz getroffen hatte. Noch immer war ich nicht imstande wegzusehen, obwohl der Anblick so grausam war, oder genau deswegen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir irgendetwas sagen wollte. Du drehst durch, Zoe! Er ist tot! Er will dir nichts mehr sagen, er kann dir nichts mehr sagen!, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, doch ich ignorierte sie und plötzlich wurde mir bewusst wieso ich nicht wegsehen konnte.

Ich war schuld an seinem Tod. Alle Menschen in diesem Raum waren schuld an seinem Tod. Wir hätten es verhindern müssen, doch wir hatten hier nur untätig rumgesessen und zugesehen, wie er gestorben war.

Die Erkenntnis war wie ein Faustschlag für mich, ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ich war für den Tod eines Menschen verantwortlich und mit dieser Schuld musste ich nun leben. Das Einzige, was ich jetzt noch tun konnte, war zu verhindern, dass er weitermachte. Ich brauchte einen Plan, wir brauchten einen Plan und zwar dringend.

Ich sah immer noch auf seine Leiche und spürte, wie sich dieses Bild unauslöschlich in mein Gedächtnis einbrannte. Genau das hatte ich verhindern wollen, doch jetzt schien es mir unglaublich albern die Augen vor der Realität zu verschließen. Je länger ich hier untätig rumsaß und abwartete, desto mehr Menschen würden sterben! Ich konnte es in diesem Augenblick nicht fassen, dass ich noch vor wenigen Minuten dafür war zu warten und auf die Polizei zu hoffen. Die Polizei würde kommen, aber dann war es wahrscheinlich schon zu spät. Wir mussten handeln und zwar jetzt, allein, bevor dieser Spinner noch weitere Menschen grundlos tötete.

Endlich schaffte ich es meinen Blick von Mr. Lees reglosem Körper abzuwenden und sah Chase von der Seite an. Seine blonden Haare standen ihm wild vom Kopf ab und seine Brille rutschte fast von seiner Nase. Ihm war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, sodass er mit seinen glasigen Augen wie eine zerbrechliche Puppe wirkte. Chase Cain, der seit dieser Horror hier begonnen hatte, mein Beschützer war, sah nun so aus als würde er im nächsten Moment anfangen zu weinen. Doch es half nichts, ich brauchte seine Hilfe.

„Chase.", flüsterte ich. Er antwortete nicht, sondern starrte einfach weiter auf den Leichnam. Die erste Träne löste sich aus seinem Auge und lief ihm über die Wange. „Chase.", wiederholte ich behutsam.

„Es hätte genauso gut mich treffen können. Vor der Tür, erinnerst du dich?" Chase sah mich an. Seine Augen wirkten leer, das Blau leuchtete nicht mehr so wie heute Morgen. „Wir haben beide nach Johns Waffe gegriffen. Mr. Lee ist dafür gestorben und ich" Er sah nach unten. „Ich sitze immer noch hier." Chase schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht, Zoe. Wieso musste Mr. Lee sterben und ich nicht. Wir haben doch das Gleiche getan!"

Ich schluckte schwer, denn ich hatte keine Ahnung wieso Mr. Lee sterben musste. Es gab keinen Grund dafür. Nur ein blödes Arschloch, das mit einer Waffe in eine Schule spazierte und Leute abknallte, um sich für etwas zu rächen.

„Ich weiß es nicht.", antwortete ich wahrheitsgemäß, „Aber wir müssen etwas tun, damit das aufhört. Alex hatte recht. Die Polizei wird es nicht rechtzeitig schaffen das hier zu beenden und wenn wir es nicht tun, dann werden noch mehr Unschuldige sterben. Ich ertrage das nicht." Meine Stimme brach ab und ich musste ein Schluchzen unterdrücken. „Wir können nichts tun. Hast du nicht gesehen wie Manuel den Jungen abgestochen hat? Das passiert, wenn wir uns wehren.", antwortete er.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und sah zu John hinüber. Er stand nur ein paar Zentimeter von Mr. Lees Leiche entfernt, die nun auf dem Boden lag und blickte grinsend auf sein Werk hinab. Wie konnte er nur Lachen während er eine Leiche ansah, das war einfach nur widerwärtig.

„Vielleicht hast du recht, Chase. Aber wenn wir nichts tun, müssen wir unser Leben lang damit zurechtkommen, dass wir tatenlos zugesehen haben wie Menschen gestorben. Möchtest du das?", ich sah ihn direkt an, mein Blick war bohrend. „Möchtest du das?", wiederholte ich meine Frage noch einmal.

Er erwiderte meinen Blick und schüttelte leicht den Kopf. Gerade als er zu einer Antwort ansetzte, ergriff John das Wort: „Ich habe diese ganze Aktion hier sauber durchgeplant. Mir Pläne des Gebäudes beschafft, geschaut zu welcher Zeit in welchen Räumen Unterricht stattfindet und sogar vorher ein paar Mal das Gebäude selbst in Augenschein genommen, um zu sehen wie sich alles seit meiner Schulzeit verändert hat. Aber eine Sache habe ich bei meiner ganzen Planung vergessen und zwar wie man die Leichen von ihrem Stuhl wegbekommt. Es kann sich ja schlecht jemand in das ganze Blut setzen, oder möchte das irgendwer freiwillig tun?" Er drehte sich zu den Lehrern um und sah zwischen ihnen hin und her. „Niemand? Das dachte ich mir schon. Ich würde sagen, dass ich das Quiz einfach ein paar Meter weiter rechts aufbaue, dann stört das ganze Blut nicht so sehr und der nächste Verlierer wird dann direkt vor der Wand erschossen.", überlegte er laut.

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Er sprach von Toten in einem Tonfall, in dem andere Menschen von ihrem Tag berichteten. Dieser Mann war einfach nur krank.

„Wir können die Leiche schlecht mitten im Raum rumliegen lassen. Ich brauche einen starken Helfer, der den guten Mr. Lee, oder das was noch von ihm übrig geblieben ist, zu diesem Typen da hinten an die Wand legt. Freiwillige?" John drehte sich zu uns Schülern um und musterte uns alle eingehend. Er lächelte boshaft. „Ihr seid jetzt an der Reihe. Quasi als Bezahlung für die gute Unterhaltung." Er ging auf uns zu. Panik ergriff mich, als ich bemerkte, dass er direkt auf mich zusteuerte. Bitte nicht, war mein einziger Gedanke, bitte nicht.

Das Quiz - Wer dumm ist stirbtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt