Kapitel 36

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Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Das schwarze Kleid war schlicht, sah aber trotzdem sehr elegant aus. Meine roten langen Haare hatte ich zu einem riesigen Dutt aufgedreht, aus dem nicht eine einzige Strähne herausfiel und mein Make-Up war sehr dezent. Ich konnte nur hoffen, dass meine Mascara wirklich wasserfest war. Ich schnappte mir den schwarzen Blazer, der über Stuhllehne hing, schaltete das Licht aus und verließ mein Zimmer.

Die nächsten Stunden würden grausam werden. Seit es passiert war riefen ständig Menschen bei uns zu Hause an, um zu erfahren wie es mir ging. Manche hatten mich sogar besucht und sich bei mir dafür bedankt, dass ich den Amoklauf gestoppt hatte. Dabei war das gar nicht mein Verdienst. Ich hatte nur dafür gesorgt, dass John richtig ausgerastet war. Letztendlich hatte die Polizei das Gebäude gestürmt und uns alle befreit, damit hatte ich überhaupt nichts zu tun. Das Schlimmste waren die Gedanken an Chase, denn ihn hatte mein dämliches Verhalten das Leben gekostet. Wenn ich nicht gegen John angetreten wäre, hätte er auch nicht in meine Richtung geschossen und Chase wäre nichts passiert. Auf der anderen Seite hätte er auch alle erschießen können, wenn er nicht gegen mich angetreten wäre. Die Zeit hätte allemal gereicht. Meine Gedanken kreisten seit Tagen um dieses Thema und ich fand keine Möglichkeit diesen Kreislauf zu durchbrechen. Meine Eltern waren der Meinung, dass ich mit einem Psychologen sprechen sollte, doch was konnte der schon tun? Chase war tot, daran konnte niemand mehr etwas ändern. Das Einzige, was ich noch tun konnte, war es ihm die letzte Ehre zu erweisen indem ich zu seiner Beerdigung ging und genau das tat ich gerade.

Ich ging die Treppe hinunter und sah, dass Mom, Dad und Ryan bereits auf mich warteten. „Wir können los.", sagte ich. Dad nickte knapp und wir verließen schweigend das Haus. Die Stille setzte sich während der Autofahrt fort. Dad konzentrierte sich aufs Fahren, Mom spielte nervös an ihrem Armband herum und Ryan sah aus dem Fenster.

Wir waren immer eine glückliche Familie gewesen, in der Harmonie herrschte und die sonntags gemeinsam Ausflüge machte. Die Stimmung während der Autofahrten war normalerweise ausgelassen. Entweder sangen wir alle gemeinsam laut zu den Songs im Radio oder wir unterhielten uns, aber die Stille, die in diesem Moment herrschte, hatte es vorher noch nie gegeben.

Ich sah aus dem Fenster und beobachtete wie die kleinen Reihenhäuser dieser beschaulichen Stadt an mir vorbeizogen. Es wirkte alles so friedlich, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. Doch das war es nicht. Die ganze Stadt trauerte. Jeder der knapp 2 500 Einwohner fühlte sich von dem Ereignis betroffen. Je näher wir der Kirche kamen, desto mehr schwarzgekleidete Menschen sah man auf dem Bürgersteig. Sie gingen langsam hintereinander her.

Dad parkte direkt vor der Kirche, sodass wir keinen weiten Weg zurücklegen mussten. Ich atmete tief durch, öffnete die Autotür und stieg aus.

„Da bist du ja endlich! Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr.", sagte Lilly und umarmte mich. Sie trug ebenfalls ein schwarzes Kleid, jedoch hatte sie ihre braunen langen Haare in elegante Wellen gelegt und trug ein auffälliges dunkles Augen-Make-Up. Doch ihr trauriger Blick verriet, wie sie sich wirklich fühlte. „Ich hätte dich hier niemals allein gelassen.", antwortete ich ihr. Sie lächelte. „Das weiß ich doch, Zoe. Können wir nochmal kurz die Rede durchgehen? Ich bin wirklich nervös und ich muss nach der Beerdigung noch etwas mit dir besprechen.", antwortete sie mir. Ich nickte und folgte ihr in die Sakristei. Seit dem Amoklauf war Lilly die einzige Person mit der ich über das Geschehene sprechen konnte, schließlich war sie die einzige der Betroffenen, die ich schon vor dem Amoklauf gekannt hatte.

~

Ich saß auf der Bank in der ersten Reihe bei den Angehörigen der Opfer und hatte das Gefühl nicht hierher zu gehören, schließlich war ich kein Angehöriger. Doch der Priester meinte, dass ich vorne bleiben sollte, wegen meiner Rede. Seit ich die mit Lilly geprobt hatte, war auch ich aufgeregt, denn die Kirche war brechend voll und gleich würden all diese Menschen mich ansehen und mir zuhören. Allein von dem Gedanken wurde mir schon schlecht.

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