Kapitel 6

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Sein Blick schweifte über die Menge und er nahm sich kurz Zeit jeden einzelnen von uns zu mustern, jedoch blieb sein kalter Blick währenddessen unverändert. Als er bei mir angekommen war, sah ich weg, da ich seinem Blick nicht begegnen wollte. Ich hielt meine Augen auf den Boden gerichtet und bemühte mich das Zittern meiner Glieder zu unterdrücken. Er sollte nicht wissen, wie groß meine Angst war. Die Starken suchten sich schließlich immer schwache Opfer aus und ich wollte um keinen Preis sein Opfer werden, obwohl ich das strenggenommen schon war. Alle, die hier saßen, waren seine Opfer. Ich hörte wie die Tür mit einem leisen Knall ins Schloss fiel und hob vorsichtig meinen Blick.

Es war alles wie vorher. Er stand immer noch an der gleichen Stelle und sah zur Tür. Also hatte er sie nicht zugemacht, sie war wahrscheinlich von allein zugefallen. Ich nutzte die Tatsache, dass er wegsah, um ihn zu mustern.

Eigentlich sah er ganz normal aus, nur sein Alter verwunderte mich. Ich würde ihn ungefähr auf Mitte zwanzig schätzen, somit war er bestimmt kein Schüler dieser Schule mehr. Um ehrlich zu sein, hatte ich ihn auch noch nie hier gesehen. Wieso lief jemand Amok, der nicht einmal hier zur Schule ging? Man brauchte doch einen Grund für eine solche Tat.

Er sah so normal aus, dass ich es einfach nicht glauben konnte. Ein Amokläufer musste sich doch von der Masse abheben und wie ein Psychopath wirken! Doch der Mann, der vor uns stand, wirkte normal, völlig normal. Wie der Nachbar von neben an, mit dem man sich über das Wetter unterhielt oder der nette Mann der einen an der Kasse im Supermarkt vorließ. Er war ganz normal gekleidet, mit einer schlichten Jeans und einem blauen T-Shirt. Wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre, wäre er mir nicht aufgefallen. Ich konnte seinen Anblick nicht länger ertragen und sah wieder zu Ash, doch im Wegsehen streifte etwas meinen Blick und ließ mich sofort zurückblicken.

Bei genauerem Hinsehen, stellte ich fest, dass ich recht hatte und zuckte instinktiv zurück. Er hielt eine Pistole in der rechten Hand und sein Finger lag bereits am Abzug. Würde er uns jetzt alle einfach so umbringen, ohne Vorwarnung? Nein, das konnte er nicht tun. Oder doch? Ängstlich sah ich wieder zu dem Mann auf. Er stand mit unveränderter Miene auf der gleichen Stelle und sah sich um.

„Dieses Türschloss ist wirklich schlecht. Ich habe nur zehn Sekunden gebraucht, um es aufzubrechen. Das ist mein neuer Rekord!"

Niemand regte sich. Wir waren alle etwas perplex. Meine schlimmste Befürchtung war eingetreten, der Amokläufer stand nur wenige Meter von mir entfernt. Ich zog meine Knie näher zu mir heran und umklammerte sie fest mit den Armen, damit man mein Zittern nicht mehr sehen konnte. Ash hatte mittlerweile meinen Arm losgelassen und faltete ihre Hände in ihrem Schoß. Er könnte binnen Sekunden einen von uns töten und wir konnten nichts dagegen tun. So nah war ich meinem eigenen Tod noch nie zuvor gewesen. Was wäre, wenn er jetzt einfach in die Menge schoss? Zoe, hör auf damit. Es wird nichts passieren., sagte ich mir selbst, schlang meine Arme noch fester um die Beine und schloss die Augen. Ich wollte nichts sehen, nichts hören und nichts fühlen. Doch die letzten beiden Dinge gelangen mir leider nicht.

„Was ist denn? Kein Applaus für mich?"

Ich hatte nicht die Kraft wieder in sein Gesicht zu sehen und hielt meine Augen geschlossen. Im Raum war es leise, bis auf den Alarm, der immer noch seine Sicherheitshinweise von sich gab. Niemand bewegte sich oder sagte ein Wort.

„Was ist denn jetzt mit meinem Applaus? So langsam werde ich wirklich ungeduldig!"

Ich hörte einige Leute nach Luft schnappen und öffnete die Augen. Oh mein Gott! Er hatte die Waffe auf uns gerichtet und trat etwas näher heran. Will er wirklich schießen? Ein paar Leute fingen an zu klatschen und langsam stiegen alle mit ein. Es war ein verhaltenes Klatschen, da niemand seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, doch es war ein Applaus.

Nachdem unser Applaus verstummt war, grinste er zufrieden. „Na also, es geht doch. Aber wollt ihr mir vielleicht mal erzählen, wieso ihr die Tische gestapelt habt? Habt ihr gerade Kunst und das ist ein Projekt? Lehrer werden wirklich immer bescheuerter...", den letzten Teil sagte er mehr zu sich selbst, als zu uns. Er nahm die Hand mit seiner Waffe wieder herunter. Also würde er nicht schießen, zumindest vorerst. Ich atmete hörbar aus und entspannte meine Arme ein wenig, die immer noch meine Beine umklammerten.

„Ihr sagt ja gar nichts. Ist niemand an einem netten Plausch mit mir interessiert? Wirklich schade, aber ich bin auch gar nicht zum Quatschen hier. Ich suche nur nach ein paar Leuten, die mich begleiten möchten." Er legte eine Sprechpause ein und musterte uns alle eingehend. Als ich seinen Blick auf mir spürte, sah ich schnell nach unten und hoffte, dass er mir somit keine weitere Beachtung schenken würde. Doch da hatte ich weit gefehlt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach er weiter: „Sie als Lehrer sind natürlich herzlich eingeladen mir zu folgen. Glauben sie mir eins, die Schüler sind froh sie los zu sein. Außerdem kommst du mit." Ich wusste nicht wen er meinte, da mein Blick immer noch nach unten gerichtet war.

„Hallo? Kannst mich vielleicht anschauen, wenn ich mit dir spreche?" Ich sah weiterhin nach unten, mit mir sprach er sowieso nicht.

„Hey, du mit den roten langen Haaren." Rote, lange Haare? Langsam hob ich meinen Blick und sah ihm direkt in die Augen „Ja, genau du! Jetzt schau doch nicht so fragend. Steh einfach auf und beweg deinen Arsch in meine Richtung."

Er spricht wirklich mit mir! Was soll ich denn jetzt tun? Ich spürte wie jemand nach meinem Arm griff und drehte mich um. „Du darfst nicht gehen. Bleib einfach sitzen.", flehte Ash mich weinend an. Doch es half nichts, aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Amokläufer seine Arme vor der Brust verschränkte und die Augen verdrehte. Er wurde langsam ungeduldig. Ich versuchte mich aus Ashs Griff zu befreien, doch sie drückte so fest zu, dass ich keine Chance hatte. „Ash, ich muss tun, was er sagt. Sonst tut er uns allen noch etwas an.", erwiderte ich so ruhig wie möglich. „Nein." „Bitte, Ash. Du möchtest doch auch nicht, dass allen etwas passiert, oder?"

„Wird's bald?", seine Stimme klang alles andere als freundlich. Ash lies langsam meinen Arm los und ich stand auf. Gerade als ich gehen wollte hielt sie mich noch einmal kurz zurück. „Viel Glück, Zoe." Ich lächelte gezwungen. „Es wird alles gut werden." Du bist so eine Lügnerin, Zoe. Du wirst sterben! Langsam setzte ich mich in Bewegung, kletterte durch unsere Mauer hindurch und stellte mich schließlich neben Mr. Lee. Wird er uns jetzt direkt hier vor allen anderen erschießen?

„Schön, dass du es auch endlich geschafft hast und du kommst auch mit." Er zeigte auf Chase, der sich, ohne jegliche Angst zu zeigen, erhob und zu uns kam.

„Sehr schön, wir sind vollzählig. Wir werden jetzt gehen und ihr bleibt in der Zwischenzeit schön brav hier sitzen und macht keine Dummheiten. Aber euer Kunstprojekt könnt ihr wieder abbauen, es ist wirklich hässlich."

Er wandte sich an Mr. Lee: „Gehen Sie vor, den Weg zum Lehrerzimmer kennen sie ja bestimmt."

Wir verließen den Raum und Mr. Lee übernahm wie gewünscht die Führung.

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