Kapitel 7

1.8K 145 13
                                    

Mr. Lee bog nach links in Richtung Lehrerzimmer ab. Wir anderen folgten ihm einfach. „Geht's vielleicht auch ein bisschen schneller? Ich möchte heute noch ankommen.", sagte der Amokläufer. „Natürlich." Mr. Lee beschleunigte seinen Schritt und wir taten es ihm nach.

Für ein paar Sekunden herrschte Stille, doch dann ergriff Mr. Lee erneut das Wort: „Wieso tun sie das?"

Seine direkte Frage schien nicht nur mich zu überraschen, denn die Schritte hinter mir verstummten. Anscheinend war der Mann stehen geblieben. Er atmete hörbar ein und sagte dann: „Erstens geht sie das gar nichts an und zweitens erfahren sie alles zu seiner Zeit, da ich ja ein netter Mensch bin."

Ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen. Dieser Mann hielt sich für einen netten Menschen, obwohl er gerade in diesem Moment drei Leute mit einer Waffe bedrohte. Wie krank konnte man eigentlich sein?

Mr. Lee erwiderte nichts mehr. Er hatte wohl eingesehen, dass es sich nicht lohnte mit einem bewaffneten Mann zu diskutieren. Wir gingen einfach nur zügig zum Lehrerzimmer.

~

Oh Mann, sind wir dumm!

Wir standen vor dem Lehrerzimmer und ich ärgerte mich maßlos über mich selbst und den Rest meiner Klasse. Der Amokläufer hatte einen Tisch unter die Türklinke geschoben, damit man sie von innen nicht herunterdrücken konnte und somit im Raum gefangen war. Wenn wir das in unserer Klasse getan hätten, würden wir jetzt vielleicht nicht hier stehen.

„Ihre Schlüssel.", er ging auf Mr. Lee zu und streckte ihm die linke Hand entgegen. Mr. Lee zögerte kurz, so als würde er abwägen, ob er ihm den Schlüssel geben sollte oder nicht.

Dann griff er blitzschnell nach der Waffe, die sich in der rechten Hand des Mannes befand. Für einen Moment sah es so aus als hätte er Erfolg gehabt, doch plötzlich löste sich ein Schuss aus der Pistole und verfehlte nur knapp Mr. Lees Fuß. Er sprang erschrocken zurück und die Waffe fiel zu Boden. Chase und der Amokläufer bückten sich zeitgleich, um die Waffe aufzuheben. Der Mann war eine Millisekunde schneller als Chase und riss mit in einer schnellen Bewegung seinen Arm zurück, damit Chase nicht nach der Waffe greifen konnte. Ich hingegen stand nur wie eine Salzsäule daneben und beobachtete das Schauspiel. Es ging alles so schnell, dass ich es erst komplett realisierte, als es schon vorbei war.

Der Mann erhob sich und sah Chase finster an. „Ich bin gerade sehr gut gelaunt, deshalb wird dir nichts passieren. Wie ist eigentlich dein Name." „Cha... Chase.", stotterte er, immer noch sichtlich schockiert von dem, was gerade vorgefallen war. „Du hast Glück, Chase, du hast Glück."

Er drehte sich zu Mr. Lee um und musterte ihn abschätzig von Kopf bis Fuß. „Sie hingegen werden mein erster Kandidat sein und ich bin mir nicht sicher, ob sie das überleben werden." Nachdem er den Satz beendet hatte, lachte er höhnisch. „Und jetzt geben sie mir ihren Schlüssel. Ich will nicht ewig vor dieser Tür stehen", setzte er genervt hinzu.

Mr. Lee griff langsam in seine Hosentasche und zog einen Schlüsselbund mit einem Anhänger, der die Aufschrift „Boss" trug, heraus und streckte dem Amokläufer ganz vorsichtig die Hand entgegen. Er traute sich weder ihn anzusehen, noch ihn anzusprechen. Sein Gesicht war aschfahl und seine Hand zitterte stark. Der Schuss hatte ihn wirklich erschrocken, auch wenn er zum Glück danebengegangen war. „Süß, wirklich süß. Ich hoffe Ihnen ist klar, dass Sie jetzt nicht mehr der Boss sind. Das bin nämlich ich.", sagte der Mann mit überheblicher Stimme und betonte das Wort „Boss" besonders.

Mit einer schnellen Handbewegung entriss er ihm den Schlüsselbund und ging zur Tür. „Chase, räum doch mal bitte den Tisch hier weg.", forderte er Chase entspannt auf und lehnte sich in einer wartenden Pose mit dem Rücken an der Wand an. Mr. Lee hingegen wirkte wie eine Statue. Er stand immer noch mit ausgetrecktem Arm an der gleichen Stelle und hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt.

Chase folgte der Aufforderung und schob den Tisch von der Tür weg. Danach trat er zur Seite, damit der Amokläufer aufschließen konnte. Der Mann ging seelenruhig auf die Tür zu und schloss sie schließlich auf. „Tretet ein." Er machte eine ausladende Geste mit seiner Hand, woraufhin Chase zögerlich den Raum betrat. Ich setzte mich auch in Bewegung und blieb erschrocken stehen, als ich über die Schwelle trat.

Ich war noch nie zuvor im Lehrerzimmer gewesen und war wirklich erstaunt, dass es so groß war. Das Gelb an den Wänden sollte freundlich wirken, doch im Augenblick war eher das Gegenteil der Fall. Da die Jalousien heruntergelassen waren, war es ziemlich düster im Raum. An einer Seite des Raumes standen alle Tische, zum Teil sogar aufeinandergestapelt, was mich ein wenig an unseren kläglichen Versuch einer Schutzmauer erinnerte. Genau davor waren die bunten Stühle platziert. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein einziger Tisch mit jeweils einem Stuhl an jeder Seite. In der Mitte des Tisches stand eine lila Lampe, die jedoch nicht eingeschaltet war. An den anderen beiden Seiten des Raumes saßen Schüler und Lehrer, manche weinten und hielten sich gegenseitig im Arm, andere hingegen starrten zur Tür und musterten uns. Wie es aussah ging er von Raum zu Raum und nahm immer ein paar Leute mit. Doch wozu das Ganze? Wollte ein Amokläufer sich nicht an seinen Feinden rächen und nur diese töten? Wozu brachte er so viele Menschen hierher? Und wie sollte jemand in seinem Alter überhaupt Feinde haben, die noch zur Schule gingen?

„Setzt euch doch. Es ist ja genug Platz da.", sagte er nach ein paar Sekunden. Wir folgten seiner Aufforderung und durchquerten den Raum, um uns nebeneinander mit dem Rücken zur Wand auf den Boden zu setzen. „Ich hole nur noch ein paar andere Teilnehmer und Zuschauer ab, bin gleich wieder hier.", sang er fröhlich und verließ den Raum. Ein paar Sekunden nachdem sich die Tür geschlossen hatte, hörte ich wie er abschloss und den Tisch wieder unter die Türklinke schob. Nachdem seine Schritte verhallt waren, herrschte für ein paar Sekunden absolute Stille.

Das Quiz - Wer dumm ist stirbtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt