John lächelte ein Lächeln, das man von einem braven Schuljungen erwartete, nachdem dieser vom Lehrer gelobt wurde. Sein Äußeres war ein so starker Widerspruch zu seinem Inneren, dass es mir immer noch schwer fiel zu erahnen, ob er im nächsten Moment ausrastete oder weiterhin den lieben Schuljungen spielte.
Dieses Mal entschied er sich dafür ruhig zu bleiben und sagte mit gelangweilter Stimme: „Nachdem wir meine Gründe für die Gestaltung dieses kleinen Spiels geklärt haben, kann ich dann ja wohl mit der dritten Frage fortfahren, oder?" John sah abwechselnd zwischen Ms. Neal und Mr. Lee hin und her. Ms. Neal starrte abwesend auf den Tisch und Mr. Lee erwiderte mit trotziger Stimme: „Sie machen doch sowieso was sie wollen."
„Ganz richtig und deshalb fahre ich auch jetzt fort. Wenn sie so freundlich wären aufzupassen, Sina." John sah Ms. Neal mit strafendem Blick an, woraufhin diese abwesend ihren Kopf hob und leicht nickte.
„Sehr schön. Also die dritte Frage, die zum Sieg von Sina führen könnte, lautet: Wann malte Vincent van Gogh die „Sternennacht über der Rhone"?" John lehnte sich mit einem breiten Grinsen in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und sah Ms. Neal erwartungsvoll an. Doch diese blickte nur unsicher zwischen ihm, der Tischkante und Mr. Lee hin und her.
Ich sah weg. Ich konnte mir diese Szene nicht länger mit ansehen. Es konnte nur noch Sekunden dauern bis sie die richtige Antwort gab und damit Mr. Lee den Todesstoß versetzte. Das darf nicht passieren!, war das Einzige, was ich denken konnte. Irgendwie musste ich ihn doch retten können.
„Chase, wir müssen etwas tun.", flüsterte ich. „Wir können nichts tun.", antwortete er leise. „Er wird einen Lehrer nach dem anderen töten. Willst du wirklich dabei zusehen?", zischte ich. „Wir haben keine andere Wahl, oder denkst du, dass er aufhört, wenn du ihn ganz lieb darum bittest?" Chase Stimme war zwar leise, dennoch war sie bestimmt. Sie duldete keinen Widerspruch. Wahrscheinlich hatte er recht, wir könnten zu zweit sowieso nichts ausrichten. Ich versuchte den Gedanken bei Seite zu schieben und mich auf meine Hände zu konzentrieren, die ich in meinem Schoß gefaltet hatte.
Das gelang mir leider nicht. Nur Sekunden später vernahm ich Johns Stimme. „Sina, antworten Sie bitte auf meine Frage." Ich sah weiterhin auf meine Hände. Ich würde nicht hochschauen. Ich wollte nicht sehen, was gleich geschehen würde.
„Sina, antworten Sie.", schrie John. Doch nichts geschah.
Konzentriere dich auf deine Hände., sagte ich mir selbst.
„Sina!" Johns Stimme war noch lauter geworden. Ich hörte wie ein Stuhl umfiel. John schien aufgesprungen zu sein.
„Wenn ich jetzt antworte, stirbt er. Ich will nicht für seinen Tod verantwortlich sein." Ihre Stimme zitterte und sie schluchzte laut.
Schau auf deine Hände, Zoe!, ermahnte ich mich.
„Sie sind nicht für seinen Tod verantwortlich, das ist er selbst. Er hat vorhin versucht mir vor der Tür die Waffe abzunehmen und damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Könnten Sie jetzt bitte antworten?" John klang monoton, gelangweilt, so als wäre dies eine lästige geschäftliche Angelegenheit, die er schnell hinter sich bringen wollte. Dabei war er an der ganzen Sache hier schuld.
Es blieb still im Raum. John sagte nichts, Ms. Neal antwortete ihm nicht und Mr. Lee hatte sich schon in den letzten paar Minuten ruhig verhalten. Was passierte hier? Ich hob meinen Blick langsam. Schau nach unten!, sagte ich mir selbst und sah schnell auf meine Hände zurück. Wenn ich nicht sah was passierte, konnte ich mich später auch nicht daran erinnern. Ich würde keine schrecklichen Albträume davon bekommen wie John auf jemanden schoss und diese Person dann starb.
Die Zeit verging, doch es passierte gar nichts. Niemand sprach. Ich hatte das Gefühl, dass sich nicht einmal jemand bewegte.
„Sina, ich gebe Ihnen noch eine Chance. Wenn Sie in zehn Sekunden nicht auf meine Frage geantwortet haben, erschieße ich Sie beide. Haben Sie das verstanden? Er stirbt und Sie sterben auch. Sie können ihn nicht mehr retten. Jetzt können Sie nur noch sich selbst retten." Johns Stimme war kalt. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er seine Drohung in die Tat umsetzten würde.
„10."
Nichts geschah.
„9."
Ich atmete tief ein, gleich würde sie ihm die richtige Antwort nennen.
„8."
Ich atmete aus.
„7. Wenn Sie die Antwort nicht wissen, kann ich Ihnen auch gerne eine andere Frage stellen."
Ich wartete auf den klang ihrer Stimme, doch ich wartete vergeblich.
„6."
Immer noch nichts. Ich spürte wie meine Hände zu schwitzen anfingen.
„5. Sina, überlegen Sie sich gut, was Sie tun."
Ich rieb meine Hände an meiner Hose trocken.
„4."
Chase griff nach meiner Hand.
„3."
Er drückte meine Hand so fest, dass es wehtat.
„2."
„1888. Er malte es 1888." Sie sprach schnell und undeutlich, doch das war egal. Sie hatte gesprochen. Sie hatte ihm eine Antwort genannt, ob diese richtig war wusste ich nicht, doch ich ging stark davon aus.
Ich begann zu weinen. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis der Schuss fiel. Ich schloss meine Augen und hielt mir mit der linken Hand ein Ohr zu.
„Dankeschön, Sina. Sie dürfen sich wieder an die Wand setzen. Sie haben gut gespielt.", sagte John mit völlig ruhiger Stimme. Ich hörte wie ein Stuhl geschoben wurde. Darauf folgten Schritte.
„Sie haben verloren, Mr. Lee. Das passiert, wenn man sich mit mir anlegt. Haben Sie irgendwelche letzten Worte oder soll ich Sie gleich erschießen?", fragte John mit einem abartigen Lachen.
„Nichts was man im Leben tut bleibt ohne Strafe, merken Sie sich das und denken Sie an mich, wenn Sie ihre Strafe verbüßen." Mr. Lee schien sich zu bemühen seine Stimme neutral zu halten, doch ganz konnte er seine Angst nicht verbergen.
„Das war's?", fragte John.
Stille.
Ich entriss Chase meine Hand und hielt mir auch das andere Ohr zu. Mein Blick war starr auf meine Hände gerichtet und obwohl meine Augen geschlossen waren, weinte ich.
Ein lauter Knall ertönte.
Ich zuckte zusammen.
Es war vorbei.
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Das Quiz - Wer dumm ist stirbt
Mystery / ThrillerEin grauer Wintermorgen. Eine ganz normale Schule. Eine ganz normale Kleinstadt. Klingt ziemlich langweilig, oder nicht? Ein Mann stürmt das Gebäude. Er versammelt alle Lehrer und einige der Schüler im Lehrerzimmer. Er veranstaltet ein Quiz. Stel...