Kapitel 16

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Ich weiß. Aber wenn wir etwas tun, werden noch viel mehr Menschen sterben. Seine Worte klangen in meinem Kopf nach. Doch ich war nicht in der Lage zu verstehen, was sie bedeuteten. Ich wollte es nicht verstehen. Denn wenn ich es verstehen würde, hieße das, dass ich es akzeptierte und ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass John gerade den Tod so vieler Menschen besiegelt hatte. Wir waren doch alle unschuldig! Wie viele Menschen wollte dieses kranke Schwein umbringen? Alle Lehrer? Und wenn er mit denen fertig war, machte er dann mit uns Schülern weiter? Ich schüttelte heftig den Kopf. Das darf nicht wahr sein, das darf einfach nicht passieren. Ich wischte mir mit der Hand die Tränen aus den Augen und atmete einmal tief durch. Bleib ruhig, Zoe. Weinen macht die Situation auch nicht besser.

„Ruhe!" Johns Stimme donnerte durch den Raum. Die Gespräche verstummten und die Aufmerksamkeit lag wieder bei ihm allein. „Dankeschön", sagte er mit ruhiger, aber hörbar genervter Stimme. „Ich erlaube mir jetzt die ersten beiden Kandidaten aufzurufen. Als erstes hätte ich gerne den netten Herrn, den ich eben bei seinem Kunstunterricht gestört habe. Er ist außerdem als der Boss bekannt, jedenfalls sagt das sein Schlüsselanhänger."

Ich schluckte schwer, er hatte uns gerade mit seinem schlechten Humor mitgeteilt, dass Mr. Lee sein erster Teilnehmer sein würde. Das durfte einfach nicht passieren, das hatte er nicht verdient. Mr. Lee war ein guter Lehrer, der sich für seine Schüler einsetzte und half wo er nur konnte. Wieso musste er sich gerade so jemanden aussuchen?

Ich spürte wie Chase seine Hand auf meinen Arm legte und sah ihn an. „Er schafft das. Er wird diese Runde gewinnen.", flüsterte Chase mir zu. Ich nickte nur leicht. „Das will ich hoffen."

Mr. Lee saß ganz hinten in der Ecke und erhob sich nun langsam, um in Zeitlupe auf John zuzugehen, jedenfalls kam es mir so vor. Abgesehen von seinen Schritten, war es still im Raum. Es wirkte fast unheimlich, dass es in einem Raum, in dem sich über hundert Menschen befanden, so leise war.

Mr. Lee blieb unmittelbar vor John stehen. „Setzen Sie sich.", sagte dieser und machte eine einladende Handbewegung. „Sie sollen es doch bequem haben, schließlich sind Sie mein Gast.", fügte er betont freundlich hinzu.

Ich wäre am liebsten auf John zugestürmt und hätte ihm die Augen ausgekratzt. Dieses blöde Arschloch wollte uns alle umbringen und seine gespielte Freundlichkeit machte mich einfach nur aggressiv. Ich atmete hörbar aus, was Chase dazu veranlasste meinen Arm loszulassen und ein leises „Sorry" zu murmeln. Eigentlich hätte ich ihm jetzt sagen müssen, dass es nicht seine Schuld war, doch ich schaffte es nicht, da John und Mr. Lee meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

Mr. Lee setzte sich nun auf einen der beiden Stühle, schloss die Augen und faltete die Hände auf dem Tisch.

Betete er? Mir war nicht bewusst, dass Mr. Lee gläubig war, doch in dieser Situation konnte ihm wirklich nur noch Gott helfen.

Mein Blick schweifte durch den Raum, alle starrten gebannt zu Mr. Lee. Ich konnte das Mitleid in ihren Gesichtern sehen. Er schwebte in Lebensgefahr und das war uns alles bewusst.

„Jetzt habe ich schon mal einen Freiwilligen. Gibt es jemanden der gegen ihn antreten möchte? Jemand, der ihm schon immer mal beweisen wollte, was für ein Loser er eigentlich ist?"

John ging vor den Lehrern auf und ab und blieb immer wieder kurz stehen, um jemanden zu mustern. Die meisten Lehrer sahen weg, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Einige starrten John jedoch einfach nur an.

Irgendwann blieb er vor einer jungen Frau stehen und musterte sie genauso wie er die Lehrer davor angesehen hatte. Doch dieses Mal sah er nicht nach ein paar Sekunden wieder weg und ging weiter, sondern blieb vor ihr stehen und starrte sie einfach an. Je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde die Frau. Sie begann damit sich hektisch ihre blonden Locken hinter die Ohren zu streichen und panisch nach rechts und links zu schauen, als erwartete sie Hilfe von ihren Kollegen. Doch die Männer, die neben ihr saßen, sahen einfach weg.

‚Helft ihr, bitte!' , flehte ich stumm. Doch es half ihr niemand, die Männer sahen immer noch woanders hin und John ging vor der Frau in die Hocke.

„Nicht so nervös. Es tut Ihnen doch niemand etwas.", sagte er „Wie heißen Sie?" „Si... Sina. Sina Neal.", antwortete sie mit zittriger Stimme.

John stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen. „Kommen Sie, Sina. Ihnen passiert auch nichts." Sie ergriff zögerlich seine Hand, da sie keine andere Wahl hatte und ließ sich von ihm auf die Beine helfen.

„Setzen Sie sich auf den anderen Stuhl.", bat John sie. Die junge Frau ging mit langsamen Schritten auf den Tisch zu setzte sich Mr. Lee gegenüber.

Ich hatte sie noch nie zuvor hier in der Schule gesehen. Sie musste zu den Lehrern gehören, die erst seit diesem Schuljahr hier unterrichteten. So jung wie sie aussah, konnte es sogar sein, dass dies allgemein ihr erstes Jahr als Lehrerin war.

Mr. Lee öffnete vorsichtig die Augen und sah seine junge Kollegin an.

Einer von beiden würde sterben und zwischen dieser Person und dem Tod standen nur ein paar Fragen. Wenn ich mir die Tragweite dieser vermeintlich harmlosen Allgemeinbildungsfragen vorstellte, wurde mir regelrecht schlecht. Wissen, das man in Kreuzworträtseln, der Schule oder Unterhaltungen aufgeschnappt hatte, konnte einem nun das Leben retten. Wie krank ist das denn bitte? Wer einmal nicht zur richtigen Zeit die richtige Information erhalten hatte, würde sterben und das nur, weil ein krankes Arschloch sich an einem Lehrer rächen wollte! Ich versuchte gegen die Tränen anzukämpfen, doch es half nichts. Nur einen Moment später spürte ich, wie eine Träne mir langsam das Gesicht runterkullerte. Beruhige dich, Zoe. So hilfst du niemandem.

Chase legte seine Hand beruhigend auf meine Schulter. „Mach, dass es aufhört.", schluchzte ich leise. Mittlerweile liefen mir die Tränen in Strömen das Gesicht hinunter. Er antwortete mir nicht, sondern legte einfach seinen Arm um meine Schulter und zog mich näher zu sich heran. Ich war ihm dankbar dafür, dass er meinen dummen Kommentar einfach ignorierte. Wenn er dafür sorgen könnte, dass es aufhört, hätte er es schon längst getan, wie alle Menschen in diesem Raum. Alle außer John, er hätte als einziger die Macht es zu beenden, doch er war der, der spielen wollte.

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