Kapitel 1

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Roland warf noch einen letzten Blick auf die Reiterschar, die sich immer weiter von ihm entfernte. An der Spitze des Zuges war der Fürst von Nordklamm, sein Vater, auf einem gewaltigen Schimmel. Die Reiter neben ihm hielten lange Stangen in den Händen, an deren Enden Flaggen im Wind flatterten. Auf diesen sah man das Wappen der Familie Wielus, einen Riesen auf violettem Grund, der einen Berg stemmte. Diese waren auf große Entfernung zu sehen und Roland dachte sich zornig:„ Es soll ruhig jeder sehen wie der edle Fürst von Nordklamm seinen Sohn fortschickt und dann auch noch stolz nach Hause reitet! Was ist er denn für ein Vater?"

Dann drehte er sich um und warf einen Blick in den Hof der Burg Rabenspitze, die nun sein neues Zuhause war. Was Roland nicht wusste war, dass sein Vater ihn zu seinem achten Geburtstag als Page zu dem legendären Fürsten von Rabenfels schickte, damit eines Tages ein stattlicher Ritter aus ihm wird. Vor Roland erstreckte sich der Hof mit den Übungsplätzen, auf denen zwei Männer in Lederrüstung mit Holzschwertern trainierten, den Ställen, aus denen das Wiehern der hungrigen Pferde ertönte und den Strohpuppen, an denen die Bogenschützen trainierten. Plötzlich ertönte hinter ihm eine Stimme, die ihn fragte: „Bist du Roland Wielus, der Sohn des Fürsten von Nordklamm?"

Der Gefragte drehte sich um und sah hinter sich einen großen Mann mit kurz geschorenem, weißen Haar stehen.

„Ja, der bin ich. Darf ich nach Eurem Namen fragen, Herr?", antwortete Roland. Der Fremde machte den Eindruck eines alten Soldaten, wovon einige Narben in seinem von Falten durchzogenem Gesicht zeugten und schien der Älteste auf dem Platz zu sein. Mit strenger Miene antwortete er: „Ich bin Balthasar, dein zukünftiger Lehrmeister. In ein paar Jahren werde ich dich im Schwertkampf unterweisen, doch momentan ist es meine Aufgabe, dich zum Fürsten zu bringen. Also folge mir bitte."

Als er Roland den Rücken zudrehte und vorausging, fiel diesem auf, dass Balthasar zwar leicht hinkte, doch sein aufrechter und schneller Gang seinem offensichtlichen Alter Lügen straften. Gemeinsam gingen sie quer über den Hof in den prächtigen Thronsaal. Der Saal besaß große Fenster, durch welche das Tageslicht die unzähligen Staubpartikel wie Sterne erleuchten ließ und zeichnete sich durch eine große Flagge an der Wand aus, auf der ein Rabe mit gespreizten Flügeln auf rotem Grund zu sehen war.

„Herr Balthasar, wie ich sehe, bringt Ihr mir den Sohn von Fürst Wielus. Ein prächtiger Bursche, ich bin sicher, er wird mir gute Dienste leisten.", war die krächzende Stimme des Fürsten zu vernehmen. Dieser hatte kurze schwarze Haare, die ihm in Büscheln in alle Richtungen standen und eine lange, hakenförmige Nase sowie klauenähnliche Hände mit langen, dünnen Fingern.

„Er sieht tatsächlich aus wie ein Rabe.", dachte sich Roland und musste sich Mühe geben, nicht zu lachen, da er bereits einige Geschichten über die Grausamkeit dieses Mannes gehört hatte.

Neben dem Fürsten saß eine blasse Frau mit langen blonden Haaren, die freundlich sagte: „Willkommen in Rabenspitze, junger Herr. Du wirst dich sicher gut mit meinem Sohn Wolfgang verstehen."

Mit dem Kopf nickte sie in Richtung eines Jungen in Rolands Alter, der größer war als dieser und lange, schwarze Haare hatte. Er saß abseits von seinen Eltern und warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Ich grüße dich, Junge. Ich bin Alfred Kalhelm, das ist meine Frau Agnes. Unser Sohn heißt, wie du gerade erfahren hast, Wolfgang.", wandte sich der Fürst nun seinem Gast zu.

„Du wirst hier viele verschiedene Aufgaben haben, zuerst wirst du mir jedoch Wein bringen.", fuhr der Adelige fort.

Roland war empört, als er erfuhr, dass er die Arbeit eines niederen Bediensteten zu erfüllen hatte, doch er hatte keine Wahl und kredenzte den Wein, den ihm ein Diener gebracht hatte. Schließlich zeigte Wolfgang ihm auf Anweisung der Fürstin sein Zimmer, an welches er hohe Anforderungen hatte. Von klein an hatte es Roland nie an etwas gefehlt, da sich seine Eltern gut um ihn gekümmert hatten und ihm sein Vater sogar Lesen und Schreiben lehrte. Doch die Realität packte ihn mit ihren harten Händen und zog ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Seine Unterkunft war kaum größer als eine Besenkammer, fensterlos und voller Spinnweben. Das Bett war hart und knarrte fürchterlich als sich Roland hinsetzte.

„In einem solchen Verlies kann man doch keinen Menschen von hoher Geburt unterbringen.", dachte sich Roland empört.

Wolfgang sagte, ehe er wieder in die Halle ging, über die Schulter: „Ich hoffe, dass wir gute Freunde werden und du mir nicht im Weg stehst. Ich werde der beste Ritter der Welt und da will ich nicht auf jemanden aufpassen müssen."

„Wir werden sehen. Wenn du weiter so mit mir sprichst, sieht es auf jeden Fall nicht gut mit unserer Freundschaft aus.", antwortete Roland schlagfertig und begab sich in sein Zimmer.

Dort ließ er sich verzweifelt in sein Bett sinken und dachte darüber nach, wie er die nächsten Jahre überstehen sollte. Weil ihm nichts anderes einfiel, begann er leise zu Gott zu beten, dass es ihm gut ergehen möge.

Der gottlose RitterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt