Kapitel 44 - Flucht nach vorn

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Kapitel 44 - Flucht nach vorn

*Hermines Sicht *

Als ich in die Morgendämmerung trete, schlägt mir die kühle Luft wie ein Faustschlag entgegen und belebt mich augenblicklich. Wach bin ich schon die ganze Zeit, konnte ich nicht wirklich schlafen letzte Nacht.
Ich atme tief durch, lasse den kalten Sauerstoff meine Luftröhre entlang sausen und stelle mit Wohlwollen fest, wie sich meine Lungen weiten. Genüsslich schließe ich die Augen und gebe mich dem Gefühl einen Moment lang hin. Automatisch strecke ich die Schultern durch und richte mich auf. Für eine Sekunde ist mein Kopf wie leergefegt und alle Gedanken haben sich verflüchtigt. Doch leider hält dieser Moment nicht lange genug, damit sich ein gutes Gefühl einstellen kann. Ich seufze ergeben.
Ehe mich die Gedanken erneut überrollen – wie sie es bereits die gesamte Nacht getan haben – renne ich los.
Das Gras schmatzt rhythmisch unter meinen Füßen, als ich meine gewohnte Strecke um den Schwarzen See einschlage. Mit aller mir verfügbaren Kraft schiebe ich jeden Gedanken von mir weg, weshalb ich starr auf den Weg vor mir blicke.
Ich laufe an den Rehen vorbei, die sich wieder aus dem Dickicht getraut haben, um die Sonne zu begrüßen. Inzwischen existieren wir im harmonischen Einklang miteinander und sie haben keine Scheu mehr vor mir. Ein kleiner Hase hoppelt neben mir durch das hohe Gras, das noch nicht von Schülern platt getrampelt wurde. Über mir bricht die Sonne allmählich durch die dichten Wolken, die die komplette Nacht das gesamte Land mit literweise Regen überschüttet haben, und kitzelt meinen Nacken. 
Weiterhin das Gras vor mir fixierend laufe ich Runde um Runde immer schneller. Es scheint, als würden mich die düsteren Gedanken, die mich die Nacht plagten, verfolgen und ich renne aussichtslos vor ihnen davon. Bei diesem Gedanken lege ich noch einen Zahn zu.
Ich spüre jeden Muskel in meinem Körper und wie er sich unter den Kontraktionen zusammenzieht. Könnten sie, würden sie vor Anstrengung schreien. Noch nie habe ich mich so ausgepowert bei meinem morgendlichen Lauf und doch habe ich das Gefühl nicht anders zurechtzukommen. Nicht anders diesen und die darauffolgenden Tage überstehen zu können.
Als sich die langen, rauchartigen Arme der Gedanken um mich schlängeln und meinen Körper in ihrem Griff gefangen nehmen, verlangsame ich mein Tempo, bis ich schließlich gänzlich stehen bleibe.

Auch wir erwarten ein Baby."
Dieser Satz hallte immer wieder in meinem Kopf nach. Auch wir erwarten ein Baby. Auch wir erwarten ein Baby.
Ich keuchte auf und bemerkte sofort, dass mir jede Möglichkeit Luft zu holen unterbunden wurde. Mit geöffnetem Mund starrte ich ins Nichts, hatte Mühe mich auf den Beinen zu halten.
Um mich herum stürzte jeder nach vorn, um Teil des großen Ganzen sein zu können. Um seine Glückwünsche vorzutragen. Ich stand noch immer wie angewurzelt da, wohl wissend, dass mir niemand in diesem Raum Beachtung schenkte. Waren sie doch zu sehr auf das junge Glück des Paares fixiert.
Ich schluckte einen Kloß, scheinbar aus Rasierklingen bestehend, hinunter und zwang meine Beine zu jedem Schritt, den sie gingen. Unter Anstrengung, all meine Kraft zu bündeln, brachte ich ein Lächeln zustande, doch ich war mir sicher, dass es wie eine verzerrte Grimasse aussehen musste.
„Ich wünsche euch alles Gute", hauchte ich, als ich vor dem Mann stand, der einmal meiner sein sollte. Der Mann, der mir all das in der Zukunft aufgezeigt hatte und es nun mit einer Anderen lebte.
„Danke, Mine", lachte er. Glücklich. Zufrieden. Ausgelassen. Und umarmte mich.
Sein Duft stieg mir in die Nase. Der Geruch aus Orange und Gras, der für mich in einer Zeit meines Lebens Geborgenheit und Zukunft bedeutete.
Mühsam löste ich mich von ihm und nahm auch den Dank seiner Frau an.
„Ich lasse dann mal die Anderen...", murmelte ich und trat steif von den Beiden weg. Meine Beine trugen mich aus dem Wohnzimmer hinaus und ließ das laute Knallen der Sektflaschen und die Freudenrufe hinter mir.
Ich lief immer weiter, durch die Küche, aus der Tür hinaus, weit hinaus, in das Feld, bis meine Knie nachgaben und ich endlich kraftlos zu Boden sackte.
Keine Träne quoll aus meinen Augen, doch ich saß reglos auf der Erde. Die Kälte kroch langsam meine Beine hinauf und verankerte sich tief in meiner Brust. Eine Faust aus Eis legte sich um mein Herz und drückte erbarmungslos zu.
Ich wusste, dass ich Ron nicht mehr liebte. Dass ihm alles Glück dieser Welt wünschte. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund traf mich die Verkündung der Schwangerschaft mit aller Härte.
Mir wurde in aller Deutlichkeit aufgezeigt, was ich verloren hatte und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich zu alle dem bestimmt gewesen bin. Dass ich all das hätte haben können.
„Willst du gehen?" Ich hatte nicht bemerkt, dass jemand zu mir gekommen war. Zu sehr war ich in meinem Schmerz gefangen.
Als ich nicht reagierte, setzte sich Severus neben mich auf den kalten Boden. Meine Knie schmerzten inzwischen, doch ich ignorierte es.
Ohne etwas zu sagen hatte er sich neben mir niedergelassen und starrte gemeinsam mit mir in die scheinbar unendlichen Weiten des Feldes.
Und mit einem Schlag fühlte ich mich nicht mehr einsam. Nicht mehr mit meiner Trauer allein gelassen. Ich spürte seine Körperwärme nah an meinem Arm. Sie kroch über meine Haut, tauchte in die Tiefen meines Körpers und bekämpfte die Kälte in meinem Innern. Mein Herz durchbrach den Klotz aus Eis, hieß Severus' Wärme willkommen und begann zu schlagen. Ich seufzte lautlos und schloss die Augen. Er war da. Obwohl ich ihn mit meiner Reaktion verletzt haben musste. Wie sehr musste er leiden, als er sah, wie sehr mich das alles mitnimmt?
Plötzlich war das Gefühl des Verlustes gänzlich verschwunden und ein schlechtes Gewissen nahm seinen Platz ein. Wie konnte ich Severus das nur antun?
„Es... Ich...", versuchte ich zu sagen, doch aus meinem Mund kamen nichts weiter als krächzende Laute. Er antwortete nicht, sondern saß reglos neben mir. Seinen Blick auf einen unsichtbaren Punkt am Horizont gerichtet.
„Ich liebe dich", hauchte ich mit schmerzerfüllter Stimme. Ein heißer Dolch schien sich durch meinen Brustkorb zu bohren, als mir die Erkenntnis darüber, wie sehr ich ihn verletzt haben musste, weiter in die Knochen sickerte.
„Ich weiß", gab er mit sanfter Stimme zurück.

Ein lauter Knall lässt mich aus meinen Gedanken hochschrecken. Verwirrt blicke ich mich um, doch ich erkenne nichts. Alles um mich herum ist dunkel. Ruckartig schießt mein Kopf von einer Seite zur Anderen, als ich gehetzt nach meinem Zauberstab taste, um mich verteidigen zu können.
Der Schock fährt mir in alle Glieder, als ich feststelle, dass ich ihn nicht bei mir habe. Ich muss ihn in meiner Trance vergessen haben. Dementsprechend habe ich mich auch nicht mit einem Desillusionierungszauber belegt.
Ich bin überaus begeistert, Miss Granger", knurrt Severus' Stimme wütend in meinem Kopf, doch ich kann mich momentan nicht auf sie konzentrieren.
Panisch blicke ich mich um, doch sowohl hinter, als auch vor mir befindet sich nichts als Dunkelheit.
Instant Finsternisspulver. Ich muss versuchen aus dem Nebel wegzukommen, damit ich sehen kann, mit wem oder was ich es zu tun habe. Augenblicklich renne ich los.
Bleiben Sie gefälligst stehen, Miss Granger", faucht die Stimme in meinem Kopf und abrupt gehorchen meine Beine. „Wenn Sie nichts sehen können, kann Ihr Angreifer das auch nicht."
Er hat Recht. Momentan bin ich in dieser Wolke wohl am sichersten, wer auch immer dafür verantwortlich ist.
Adrenalin frisst sich durch meine Adern und mein Herz pumpt mehr, als es es vorhin bei meinem Sprint getan hat. Wie ein gehetztes Tier blicke ich mich immer wieder um, in der Hoffnung irgendwas sehen zu können.
Ein roter Lichtblitz fliegt direkt über meinen Kopf hinweg. Erschrocken zucke ich zusammen. Oh. Severus wird begeistert hiervon sein.
Versuchen Sie erst einmal lebend hier raus zu kommen", ermahnt er mich und ich sammle meine Gedanken. Durch Adrenalin und Panik gepusht sind meine Gedanken glasklar und fixiert. Der Fluch kam von rechts, also muss da der Angreifer sein.
Gerade, als ich einen Schritt nach links machen möchte, kommt ein weiterer Blitz direkt auf mich zugeflogen. Mit einem Hechtsprung, bei dem ich ungünstig mit dem Handgelenk auf dem Boden aufkomme, rette ich mich in letzter Sekunde. Die Sehnen in meiner Hand krampfen sich schmerzhaft zusammen, was mich dazu bringt geräuschvoll zu zischen. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche den Schmerz zu ignorieren.
Doch gerade, als ich mich aufrichten will, wird ein weiterer Fluch hinter mir abgefeuert, bis schließlich ein Farbspiel aus Grün und Rot entsteht und über mir in all seiner Pracht aufleuchtet.
Meine Gesichtszüge entgleiten, als mir bewusst wird, dass es zwei Zauberer geben muss, die sich hier gerade duellieren.
„Bitte lass es nicht Severus ein. Bitte lass es nicht Severus sein", sage ich mir immer wieder wie ein Mantra vor, doch ich werde jäh unterbrochen.
„Hermine?", ruft eine mir nur zu bekannte Stimme, aber ehe ich reagieren kann, werde ich am Arm gepackt und aus der Wolke gezogen. Der Rauch wird immer lichter und ich muss ein paar mal blinzeln, als ich wieder ans Sonnenlicht gerate.
„Was... Wer war das?", frage ich atemlos, während ich meine Augen mit meiner Hand vor der Sonne abschirme.
„Ich weiß es nicht", keucht Draco, vornüber auf seine Knie gestützt. „Aber er ist weg."
Schweratmend liege ich im Gras - meine Hand pocht schmerzhaft -, doch bevor ich zu Luft kommen kann, wird mir bewusst, dass ich mitten auf den Ländereien mit Draco bin und Severus uns sofort sehen würde, würde er hinauskommen. Und das ist nicht so unwahrscheinlich, wenn ich daran denke, was hier eben passiert ist.
„Geh", hauche ich atemlos zu Draco, der sofort versteht und in den Verbotenen Wald verschwindet. Einige Zeit schaue ich ihm noch hinterher, ehe ich mich aufrapple und mit wackligen Knien zurück ins Schloss gehe.

Als ich leise die Tür zu unseren Gemächern öffne, stecke ich zuerst meinen Kopf durch die Tür, um zu sehen, ob Severus bereits wach ist. Da ich ihn nirgends sehen kann, schlüpfe ich durch den Spalt und handhabe es ebenso mit der Schlafzimmertür. Mit zusammengebissenen Zähnen versuche ich die Schmerzen in meiner Hand zu unterdrücken. Wenn ich es ins Badezimmer schaffe, kann ich einen Heilspruch auf die Stelle wirken.
Möglichst lautlos trete ich ans Bett heran, stelle mich auf Zehenspitzen und luge über die Bettdecke.
„Guten Morgen", ertönt es amüsiert hinter mir und ich drehe mich erschrocken um.
„Severus", hauche ich schweratmend, während ich mit meiner gesunden Hand an die Brust greife.
„Es ist so früh, wieso warst du schon laufen?", fragt er leise, aber dennoch mit diesem unverkennbaren Reiben in der Stimme, das mir sofort eine Gänsehaut über den Körper jagt.
Verwirrt schaue ich auf den Wecker, der neben meinem Bett steht und erkenne, dass es gerade einmal halb sieben ist. Ich muss wirklich früh zum Laufen gegangen sein.
Mit dieser Erkenntnis kommt eine Andere. Severus hat nichts von dem mitbekommen, das sich eben auf den Ländereien abgespielt hat. Erleichterung durchflutet mich, ehe ich auf ihn zugehe und ihn keck anlächle.
„Mir war danach", antworte ich schlicht und schlüpfe an ihm vorbei ins Badezimmer.

Komm, unsere Herzen zeigen uns den WegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt