Twenty

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C E L I A

Es fühlte sich zu dieser frühen Stunde erstaunlich befreiend an, wie meine nackten Füße die violette Yogamatte berührten. Die Sonntagssonne war noch nicht aufgegangen, hin und wieder wehte die frische Morgenluft in mein Schlafzimmer herein und ließ mich angenehm erschaudern.

Sonstige Geräusche und Bewegungen nahm ich gar nicht wahr, denn die meisten im Wohnviertel schienen noch zu schlafen- meine Eltern mit eingeschlossen, oder verließen nicht das Haus, bevor die Umgebung keiner Helligkeit erliegen war und draußen eine eisige Kälte herrschte.

Die Stille schenkte mir die Möglichkeit, mich leichter auf mich selbst- auf meinen Körper und meine Atmung zu konzentrieren. Ich hielt gedanklich Störenfriede von mir fern, versuchte nur das aufzunehmen, was mir gut tat und ergab mich vollkommen der Entspannung hin.

Ich hatte über ein ganzes Jahr lang meine Gewohnheiten vernachlässigt, womit ich keineswegs zufrieden war, da normalerweise die Routine meinen Alltag prägte. Es würde zwar noch dauern, bis alles seinen gängigen Gang einnahm, aber ich war fest entschlossen, daran zu arbeiten.

So startete ich meinen Tag wieder mit Yoga, weil das im Vergleich zu den anderen Dingen einfach umzusetzen war und mich nicht in die schrecklichste Phase unseres Lebens zurückversetzte. Viel mehr half es mir, zur Ruhe zu kommen und all das Negative für einen Moment zu vergessen.

Damals als sich Enzos Gesundheitszustand drastisch verschlechtert hatte, er immer schwächer wurde, rückte nahezu alles, was nicht ihn betraf, stark in den Hintergrund. Demzufolge auch meine Hobbies. Von der Routine war seither nichts mehr übrig geblieben.

Ich glaubte immer, ich würde die Kontrolle über mein Leben verlieren, sobald ich nicht meinen üblichen Aktivitäten nachging. Dabei geriet meine ganze Welt erst dann ins Schwanken, als mein Bruder kraftlos im Krankenbett lag, und brach völlig zusammen, nachdem er aufhörte zu Atmen.

Dadurch nahmen die Dinge erst recht einen anderen Lauf, wovon ich mich bis heute nicht gänzlich erholen konnte. Weder ich noch meine Eltern. Wir hatten uns eine lange Zeit lang nicht getraut, so weiterzumachen wie bisher, weil alles, was wir einst mit ihm taten, sich falsch angefühlt hatte.

Ich war mit diesem Gefühl am stärksten betroffen. Schließlich wuchsen Enzo und ich wie Zwillinge auf. In ihm fand ich meinen besten Freund, den ich nie gesucht hatte. Es gab so ziemlich nichts, was wir nicht miteinander geteilt hatten. Jeden Schritt im Leben gingen wir gemeinsam.

Als ihm aber bewusst wurde, dass er nur noch seine letzten Atemzüge nahm, wollte er, dass ich anfing zu lernen, ohne seiner Stütze zu laufen. Meine eigenen Entscheidungen traf, mir Ziele setzte, die ich nicht aus den Augen verlor und vor allem nicht das vergaß, was mich ausmachte.

Wie es jedoch unschwer zu erkennen war, scheiterte ich und brach mein verdammtes Versprechen. Ich ließ zu, dass das Klavier, das ihm so wichtig war, Staub fing, bloß weil ich nicht mutig genug war, um mich darum zu kümmern. Ich hatte seinem wertvollsten Besitz jegliche Achtung verweigert.

Enzo hatte immer behauptet, dass das Klavier uns beiden gehören würde. Dem wollte ich bis heute kein Glauben schenken. Es war seins gewesen. Von uns beiden war definitiv er das musikalische Genie, ich dagegen war nur ein unscheinbares Ebenbild, welche er tagtäglich gelehrt hatte.

Wieder dachte ich viel zu viel nach, dabei wollte ich das während meiner Entspannungsphase vermeiden. Mit neuer Konzentration begab ich mich schlussendlich zurück in die ursprüngliche Position und atmete ein letztes Mal tief aus, bevor ich die Augen langsam wieder öffnete.

Jetzt war ich energiegeladen und bereit, den Rest des Tages zu überstehen. Es stimmte mich zwar ein wenig unruhig, nicht zu wissen, was mich erwartete, da ich vorhersehbare Ereignisse bevorzugte, aber mein Gefühl verriet mir, dass heute keines dieser langweiligen Sonntage war.

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