Fourty five

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Jeder Muskel meines Körpers entspannte sich, als die sanften Klaviertöne erklungen. Das Stück hatte keinen Namen. Ich fragte mich oft, wie Enzo es wohl genannt hätte. Seine Antwort hatte immer gelautet, dass ihm noch der perfekte Name einfallen würde und ich mich nur gedulden müsste.

Das Haus war leer und ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Kopf frei zu kriegen. Es war Freitagnachmittag und draußen stürmte es. An regnerischen Tagen hatten Enzo und ich oft zusammen gespielt, um uns von dem schlechten Wetter abzulenken und Tee getrunken.

Es war so eine kleine Gewohnheit gewesen, dass meine Mutter Tee aufgesetzt und uns mit Papá stundenlang zugehört hatte. Manchmal, wenn ihr wohl dabei war, sang sie mit ihrer engelsreichen Stimme süße Liedchen zu unseren Melodien, die unsere Kindheit geprägt hatten.

Andere erkannten es auch, dass wir unser musikalisches Talent eindeutig von unserer Mutter bekommen hatten. Von klein auf gab uns Mamá zu Verstehen, dass wenn uns die Worte fehlten, wir durch die Musik unsere Gefühle zum Ausdruck bringen könnten. Ich liebte sie dafür so sehr.

Umso trauriger machte es mich, dass sie nach wie vor nicht imstande war, zu singen, geschweige denn über ihren einzigen Sohn zu reden. Er war noch immer ein Tabuthema. Also spielte ich nur dann Klavier, wenn ich mich vergewissert hatte, dass meine Eltern außer Reichweite waren.

Ich wünschte es wäre nicht so unglaublich belastend für sie, an Enzo erinnert zu werden. Wenn man auf sie traf und Zeit mit ihr verbrachte, fiel nicht sofort auf, welchen Kummer sie mit sich trug. Sie hielt ihre falsche Maske wie eine Meisterin aufrecht und schien vor anderen glücklich.

Es war so schwierig zu ihr hin durchzudringen. Immer blockte sie ab, sobald sie über unangenehme, gar schmerzliche Themen reden sollte. Selbst mein Vater schaffte es nicht, dass sie ihr Leid mit uns teilte und darüber sprach. Auf Dauer könnte das doch nicht gesund sein.

Sie erhielt zuerst therapeutische Unterstützung, doch mit unserem Umzug ging dies verloren und sie hatte sich auch seither nicht die Mühe gemacht, die Therapie wiederaufzunehmen. Das letzte Mal, als wir sie dazu bewegen wollten, endete es in einer fürchterlichen Katastrophe.

Weder mein Vater noch ich verstanden damals ihre heftige Reaktion, jedoch zwangen wir sie auch nicht und ließen dieses Thema bleiben mit der Hoffnung, dass sie von allein diesen Weg nochmal beschritt und einsah, dass ihr Leid nicht so tief in ihr verankert bleiben durfte.

Zu dieser Zeit des Jahres fielen jedoch auch ihre steinharten Masken, denn der Todestag meines Bruders näherte sich und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie war so furchtbar traurig. Nur an diesem einzigen Tag erlaubte sie es sich, laut zu trauern und jedes Mal zerbrach es mir das Herz, sie so zu sehen.

Ich wollte, dass sich daran etwas änderte und sie genauso wie ich auch erkannte, dass es auch guttat, über Enzo zu sprechen. Sie war dermaßen gefangenen in ihrer traurigen kleinen Blase, dass sie vergaß, dass es die vielen Erinnerungen waren, die ihn lebendig und nah wirken ließen.

Wenn sie nur zuließe, an die schönen Momente erinnert zu werden, würde sie merken, dass das nicht zwingend schmerzvoll war, sondern auch wohltuend. Enzo hätte keinesfalls gewollt, dass er in diesem Haus totgeschwiegen wurde, bloß weil seine körperliche Präsenz fehlte.

Meine Finger hörten abrupt auf, auf die Tasten zu drücken, als ich die Klingel der Haustür vernahm. Meine Eltern könnten nicht so früh schon zurück sein. Ich würde vermutlich nicht weiter spielen, also deckte ich das Klavier sorgfältig wieder zu, bevor ich die Tür aufmachte.

"Der Postbote hat dein Paket wieder bei uns abgestellt!" Mir wurde das genannte Paket in die Hand gedrückt, ehe ich einen kurzen Kuss auf die Lippen bekam. Ich schmunzelte darüber. "So langsam glaube ich, der Postbote macht das extra, damit du Grund hast, rüberzukommen."

CloverleafWo Geschichten leben. Entdecke jetzt