Wirbelwind

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France, today

Als wir am ehemaligen Haus der Cartiers ankamen, war es bereits Abend und die Straßen Paris' schienen ein glitzerndes Meer aus Verlockungen zu sein, denen die meisten nicht widerstehen konnten. Estella war nervös, und das machte sich nicht nur durch ihren gesteigerten Gesprächsbedarf sondern auch durch das leise Trommeln ihrer Finger auf dem Lenkrad bemerkbar. Ich war gespannt wie sie reagieren würde, wenn sie das Haus, in dem sie aufgewachsen war, wieder betrat. Wäre sie traurig, das der Zustand des Hauses so miserabel war oder wäre sie etwa erleichtert das die Spuren ihrer nicht so großartig verlaufenen Jugend langsam verblassten? So oder so, ich würde es bald erfahren, denn in diesem Moment hielt sie das Auto am Straßenrand an und ich fand mich in der Straße wieder, in der ich vor nicht allzu langer Zeit schon einmal unschlüssig auf das alte Haus gesehen hatte. So wie Estella jetzt.

„Es hat sich kaum verändert." Von außen vielleicht, ja.

"Wollen wir reingehen ode brauchst du noch ein bisschen Zeit?" Ich konnte nicht leugnen das die Februartage in Paris nicht gerade die wärmsten waren.

„Nein, geht schon." Mutig nickte sie und wir machten uns daran, die Straße zu überqueren. Ich warf einen Blick zum Haus der Nachbarin, die mir damals die Tür geöffnet hatte und der ich nur ungern wieder begegnen würde. Ich wollte keine Fragen beantworten, nicht mit Estella. Dazu musste wir die Antworten erst einmal selbst finden.

„Es ist lange her..." Damit holte Estella den Haustürschlüssel hervor und steckte ihn in das eiserne Schloss, das ich einst mit ruppigeren Methoden geöffnet hatte. Wie damals schlug uns eine Staubwolke entgegen, als wir die Tür öffneten. 
„Wow, hier war wirklich lange niemand mehr." Eine der Fragen, die ich schon von Anfang an hatte.

„Was ist mit deiner Schwester? Oder deinen Eltern? Warum wohnen sie nicht mehr hier?" Estella zuckte allerdings nur mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht, Louise, ich war ja fünf Jahre lang nicht mehr hier. Und das ist eine lange Zeit, glaub mir. Ich schätze mal meine Eltern haben sich eine Villa irgendwo im Süden gekauft, das Geld dazu fehlt uns ja nicht. Vielleicht hängen ihnen an diesem Haus auch zu viele Erinnerungen. Und meine Schwester Sinia ist schon lange ausgezogen, zu ihrem Mann der irgendwo im Zentrum Stadt ein Haus hat. Sie hat jetzt ihre eigene Familie." Sinia war Estellas ältere Schwester und die Mutter von Philine, die laut ihr gerade einen Shopping-Trip nach Dubai machte. Ich fragte mich, ob das Verhältnis zu ihrer Schwester gut gewesen war.

„Und da haben deine Eltern das Haus einfach so verkommen lassen?" Ich konnte mir nicht vorstellen dass sie die Erinnerung an eines ihrer Kinder einfach so hinter sich lassen konnten. Wenn ich sie denn je kennenlernen würde, würden sie mich akzeptieren? Schließlich schien es, als haben sie Estella auf ihre eigene Weise verstoßen...

„Meine Eltern waren immer schon eine Kategorie für sich, nimm das nicht persönlich. Wir sollten ihnen dankbar sein, schließlich haben sie den ganzen Reichtum der Familie angehäuft."

„Wie denn eigentlich?"

„Sie waren Kunstsammler. Sie haben gekauft und verkauft bis der Name Cartier in Europa keinem Kunstkenner mehr fremd war. Als ich zehn war haben sie dann aufgehört und die ganze Sammlung im Wert von mehreren Millionen verkauft." Anders gesagt, die Familie Cartier war also steinreich. Estella schnippte mit den Fingern und die Glühbirnen im Haus, deren Verbindung zum Lichtschalter wahrscheinlich schon vor Jahren von Nagetieren durchtrennt worden waren, gingen an. „Wahnsinn wie viel Staub das ist." Sie wischte mit dem Finger über ein Regal und musste husten.

„Hier habt ihr also gewohnt?" Bei meiner Frage veränderte sich ihr Gesicht zu einer Miene, die von Kummer und Schmerz sprach.

„Ja. Das Haus war ein Familienerbstück und früher eine Art Kunstgalerie, jedenfalls das Erdgeschoss. Meine Schwester hat immer erzählt wie schrecklich laut es abends immer geworden ist, wenn meine Eltern mal wieder eine ihrer privaten Feiern hielten, die in erster Linie dazu dienten die Gemälde zu verkaufen. Als ich geboren wurde ist das immer weniger geworden, bis sie es schließlich Leid hatten. Und das Geld brauchten sie damals sowieso schon nicht mehr." Ich wusste das hinter ihren Worten noch mehr steckte und ihre Kindheit wohl genauso verkorkst gewesen war wie meine.

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