Familienbesuch

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Paris, today

Nach drei Tagen hatte ich mich soweit erholt, dass ich das Bett verlassen und jetzt am Esstisch saß, wenn Estella und meine Adoptiveltern über hitzige Themen alias unser weiteres Vorgehen diskutierten. Jetzt, wo ich wusste was mit Sandra los war, war ihr Verhalten doch eigentlich ziemlich eindeutig und ich wunderte mich, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. Am dritten Tag ließ Estella einen mehr als kuriosen Doktor in unsere Wohnung, der den Verband um meinen Kopf löste und anstelle dessen nur noch ein kleines Pflaster auf die Stelle an meine Stirn klebte, wo mein Kopf Kontakt mit dem Boden gemacht hatte.

„Hätten wir nicht einfach zurück ins Krankenhaus fahren können?", fragte ich Estella skeptisch während ich den Doktor misstrauisch beäugte. 
„Hätten wir, aber du solltest dich noch ein bisschen schonen. Außerdem ist es ganz gut, wenn wir uns da draußen ein paar Tage nicht sehen lassen." Ich wusste, worauf sie hinaus wollte. Es war unvorsichtig zu glauben, dass sie nach dem Desaster mit dem explodierenden Auto einfach so in Ruhe lassen würden. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, das die wahren Magier jede kleinste Chance, in der ich mich außerhalb des schützenden Kreis bewegte, den die anderen um mich gebildet hatten, nutzen würden.

Ich erließ die Prozedur des Arztes wortlos über mich ergehen und war froh, als mir Estella übersetzte, dass ich in einer Woche schon wieder genau so fit wäre wie zuvor. So sicher ich mir hier auch fühlte, ich konnte das Gefühl, im Haus eingesperrt zu sein nicht unterdrücken. Der einzige Lichtblick war, dass Philines Besuche eine derartige Ablenkung darstellten, dass ich nicht einmal Zeit hatte mich um irgendetwas anderes zu sorgen.

„Lou!" Philippe fiel mir um den Hals und tat gerade so, als wäre sie nicht schon gestern, vorgestern und vorvorgestern hier gewesen. „Ich bin ja so froh, dass es dir wieder besser geht! Ich brauche dringend deine Hilfe!" Ich überlegte angestrengt was es den sein könnte, bei dem Philine unbedingt meine Hilfe bräuchte, und mir fiel partout nichts ein. Ich kannte niemand selbstständigeren als Philine, die mit zwanzig schon an ihrer eigenen Modelinie arbeitete und die nett gemeinte Ratschläge von anderen als Kritik empfand und lieber ihr ganz eigenes Ding durchzog.

„Du brauchst meine Hilfe? Mamma mia, das dieser Tag noch einmal kommen würde hätte ich nicht erwartet", scherzte ich, während ich meine Haare aus dem Ungeheuer eines Pelzmantels bereite, bei dem sie sich geweigert hatte, ihn an der Garderobe im Eingangsbereich abzulegen.

„Das gehört zu meinem Outfit!", hatte ich sie empört an der Tür sagen hören.

„Ich weiß, ich weiß, das mag jetzt vielleicht etwas überraschend kommen, aber ich bekomme am Freitag Besuch. Und du bist ebenfalls eingeladen, sonst überstehe ich diesen Abend nicht."

„Mir kommt niemand in den Sinn bei dem meine Anwesenheit so unbedingt erforderlich ist wie die Queen. Zur Übersetzung." Philine seufzte.

„Doch, leider schon. Meine Eltern haben sich selbst zum Abendessen eingeladen." Das ließ mich aufhorchen. Was ich von Philines Eltern gehört hatte, war, das sie geschieden waren und ihrer Tochter jeden Wunsch erfüllten, solange er sich kaufen ließ (Estella). Und, dass ihre Mutter gerne mal spontane Luxusreisen in den Orient unternahm (Philine). Viel mehr hatte ich über die beiden noch nicht erfahren und ich wusste nicht wirklich, ob ich das auch wollte. Estella schien kein gutes Verhältnis zu ihrer Schwester zu haben. Was nichts heißen musste, denn die gesamte Familie Cartier schien zerstritten zu sein.

„Wir haben einfach alle zu starke Charaktere, wir würden uns gegenseitig die Luft zum Atmen nehmen", hatte mir Estella einmal erklärt. „Nur bei meinen Eltern scheint das zu funktionieren, aber eigentlich gehen sie sich auch die meiste Zeit aus dem Weg." In der neuen riesigen Villa in Südfrankreich war das wohl sehr einfach.

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