Das Starbucks-Delikt

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Paris, heute

Es war etwas anderes, nach Paris zurückzukehren und zu wissen, dass Viola nicht mehr da war. Ich vermied es gekonnt, das Wort tot zu verwenden, weil das nicht der Wahrheit entsprach. Viola war nicht tot, sie war nur nicht mehr in der Lage, uns etwas anzutun.

Dann bist du für immer verloren und deine Zellen schwirren irgendwo einzeln in der Luft herum, hatte Estella gesagt. Viola war für immer verloren.

Ohne diese Last war ich ein anderer Mensch geworden. Nein, stop. Ich war schon lange zu jemand anderem geworden, ich hatte es mit den ständigen Hintergedanken an Viola nur nie bemerkt. Ich war zu beschäftigt gewesen, um mich überhaupt etwas länger mit mir zu beschäftigen. Estella, Sandra, Chris, Emanuel, Alex, Selian und schließlich Philine- so viel Sorge um die, die ich liebte. Ich hatte mir nicht einmal ein Leben danach vorstellen können, hatte keine Ahnung, auf was ich mich jetzt konzentrieren sollte- jetzt, wo all die Sorge auf einmal weg war. Da erschien Paris nur wie der erste Halt auf einer langen, langen Reise, die mir noch bevorstand. So wie Sankt Petersburg einst. Aber nicht einmal in London, zurück in meinem alten Leben, hatte ich mich so gefühlt wie jetzt. Ich hatte so viel gewonnen, bemerkte ich leise. Nicht nur Bekanntschaften, aber auch Lebenserfahrung. Ich war eben älter geworden.

Als wir nach Hause zurückkehrten, war es für lange Zeit still. Philine und Marléne waren bereits von Estella und Selian in ein Krankenhaus im Zentrum Paris'verfrachtet worden und so waren wir nur Emanuel, Alex und ich, die sich auf direktem Weg nach Paris machten. Marlénes Truppe war nach dem Sieg vorläufig in Russland verblieben, wahrscheinlich um Violas immer noch existierendes Spinnennetz zu zerstören, das ohne seine Spinne nicht mehr lange standhalten würde. Ich hatte nicht gewusst, was ich zu Emanuel sagen sollte. Er hatte jemanden verschwinden lassen, der einst die Liebe seines Lebens gewesen war. Wie schwer das war, wollte ich mir nicht vorstellen wollen. 

Vielleicht dachte er an Viola, während wir gemeinsam im Zug saßen und aus dem Fenster schauten. Ich saß mit Alex gegenüber Emanuel. Ich wusste auch nicht, an was er dachte, aber ich vermutete das Alex'Gedanken ihn immer wieder ins Reich der Träume abdriften ließen, seine Augen fielen von Zeit zu Zeit zu, nur um vom Geräusch des in einen Tunnel einfahrenden Zuges wieder hochzuschrecken. Vielleicht träumte er auch von seinem schrecklichen Gefängnis. Aber immer wenn er die Augen öffnete, war ich hier um ihm zu sagen dass er all das hinter sich gelassen hatte. 

Als es Nacht wurde und die Landschaft draußen eine einzige schwarze Nacht waren, hatte ich viel Zeit nachzudenken. Alex und Emanuel schliefen beide, eingenickt auf ihren Sitzen. Emanuel hatte die Stirn gerunzelt und ich hatte das Gefühl, das seine Augen unter den Lidern wie verrückt hin und her huschen zu schienen. Was sollte ich jetzt anfangen mit meinem Leben? Ich würde wahrscheinlich Monate, wenn nicht Jahre brauchen, bis ich auf der Straße ohne das mulmige Gefühl, Violas Gefolge könnte mir an jeder Ecke auflauern, laufen konnte. Und von den Plänen der anderen hatte ich sowieso keine Ahnung.



„Happy Birthday to you!", wurde ich von meinen Adoptiveltern empfangen, die sich auf den Weg zum Bahnhof gemacht hatten, um uns wie überlebende Krieger zu begrüßen. Aber das waren wir auch. Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, das sie recht hatten. Mein Geburtstag. Achtzehn und damit eine gehörige Portion Verantwortung, die mich noch unsicherer werden ließ.

„Was? Heute ist nicht schon der achte, oder?" Sandra drückte mich an ihren noch etwas größer gewordenen Babybauch.

„Der Neunte. Du hattest gestern Geburtstag. Also eigentlich alles Gute nachträglich!" Holla die Waldfee, da hatte ich doch glatt meinen eigenen Geburtstag vergessen. Aber wer konnte mir das schon übelnehmen, wenn ich gerade die Welt gerettet hatte?

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