Krümelmonster

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Paris, heute.

Und dann kehrte endlich Ruhe ein. Meine Adoptiveltern traten ihren Weg nach Großbritannien an und ich versicherte, so bald wie möglich wieder in mein Heimatland zurückzukehren. Dann war es nur noch die Familie Cartier in Paris, wobei sich auch unsere Zahl ziemlich dezimiert hatte. Estella und Selian hatten sich auf einen Kurztrip ans Meer gemacht- keiner wusste, wie lange ihr Aufenthalt im Bell Cottage dauern würde. 

Und Nathan Cartier, mein alter Freund aus London, gleichzeitig aber auch der Mitglied meiner Familie (und ich war immer noch stinksauer auf ihn!) hatte sich aus dem Staub gemacht, sobald die Nachricht unseres Sieges gegen Viola Paris erreicht hatte. Wir hatten bis Tage nach unsere Ankunft zwar nicht einmal gemerkt, dass er auf einmal verschwunden war, aber der alte Mann war eben ein Schatten, dessen Präsenz man schon suchen musste, um sie wahrzunehmen. Auf jeden Fall war er mal wieder verschwunden und ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn auch in seinem alten Buchgeschäft in London nicht antreffen würde. Aber laut Philine und Estella war Nathan ja schon immer ein Weltenbummler gewesen, der nach Jahren unerwartet wieder aus dem Untergrund auftauchen konnte. Vielleicht hatte sich meine Wut bis dahin ja etwas abgekühlt.

Als meine Familie sich nach und nach aus dem Staub machte, blieb mir erstaunlich wenig übrig. Ich hatte zwar Geld und auch Alex hatte sich mit seinem unglaublichen Vermögen sofort und auch erfolgreich auf die Suche nach einer passenden Wohnung in Paris gemacht. Und glaubt mir, das war eher Kleeblatt suchen als nur einen Anruf tätigen. Und wir suchten nicht die Dreiblättrigen.

Aber es war doch schwer, wieder Struktur in mein Leben zu bekommen. Ich verbrachte ganze Tage damit, einfach nur in Philines Atelier zu lümmeln und Croissants zu essen. Die waren hier wirklich fantastisch.

Philine wurde kurz nach meinem Besuch im Krankenhaus auch schon wieder entlassen und auch Marléne konnte eine Woche später einen Fuß vor die Krankenhaustüren setzen. Natürlich war ich nicht alleine in Philines Atelier, denn ein gewisser Barista hatte erstaunlich viel Zeit übrig, um genau wie ich nutzlos in den Bahnen von Stoffen und Entwürfen zu krümeln. Von ihm lernte ich auch meine ersten Sätze auf Französisch, die ich im Ganzen verstehen und sprechen konnte.


„So kann das nicht weitergehen!", war der Weckruf, der mich eines Tages aus meinen Träumereien eines rosa Tüll-Ungetüms riss. Philine fegte erbost Croissantkrümel von ihrem Tisch, während sie uns beide, aber vor allem mich, missbilligend ansah. „Liebe Cousine, ich sage das nicht gern- aber such dir einen Job! Egal was, Hauptsache du hast eine Beschäftigung und knickst nicht immer alles um!" Mit zerknirschten Zähnen rutschte ich von einem Stück Stoff, das in der Tat sehr zerknittert aussah.

„Gilt das auch für mich?", fragte Maxime mit besorgtem Gesicht, aber anscheinend hatte meine Cousine tatsächlich die rosarote Brille auf.

„Nein, wieso auch? Du störst hier nicht." Ich schnaubte empört, folgte aber ihren Anweisungen. Ich stand auf und schnappte mir meine Tasche. Dann aß ich mein Croissant draußen weiter, wobei ungefähr ein Dutzend Autos anhielten, um mich über die Straße zu lassen. Aber ich wollte hier einfach nur auf dem Bürgersteig stehen, essen und nachdenken. Eingebung kam mir keine, aber ich sah ein dass es endlich Zeit war, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen.



Ich spazierte mit Alex an der Seine entlang.

„Bist du glücklich?" Die Frage kam so überraschend, dass ich zuerst keine Antwort darauf wusste.

„Ja, natürlich bin ich glücklich. Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe. Eine Familie, den besten Freund der Welt... ein Zuhause. Du nicht?"

„Doch." Er schmunzelte. „Manchmal macht es mir etwas Angst. „Ich glaube, ich war in meinem Leben noch nie so unbeschwert." Ich wusste genau, was er meinte.

„Aber Paris ist für mich ein Zwischenstopp, weißt du? Ich will.... Die Welt sehen." Ich ließ meinen Blick am anderen Ufer des Flusses entlangschweifen, der genau so mit Spaziergängern bevölkert war wie unsere Seite.

„Dir ist langweilig?" Alex lachte. „Und ich dachte du bist froh endlich Ruhe zu haben."

„Diese ständige Angst war schrecklich. Aber ich bin ein schrecklicher Mensch, ein schrecklicher Magier, weil sie mir fehlt. Na gut, das ist blöd ausgedrückt."

„Das Adrenalin?"

„Nein, eher dieser Trubel." Wir umrundeten einen Straßenkünstler, der sich am Boden mitsamt seinen Farben ausgebreitet hatte. Die Sonne ließ das Bild in allen möglichen Farben funkeln.

„Ich glaube nicht, dass unsere Aufgabe erledigt ist, Lou. Viola ist zwar tot, aber das heißt nicht, dass die anderen wahren Magier nicht nochmal auf der Bildfläche auftauchen werden." Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

„Glaubst du, wir sollten Emanuel helfen? Das wird eine ziemlich komplizierte Aufgabe werden."

„Auf jeden Fall." Schweigend gingen wir weiter.

„Ich muss ein paar Sachen holen... aus meinem Haus in Sankt Petersburg. Kommt du mit?"

„Warum nicht?" Bei dem Gedanken, wieder in Alex'Heimatstadt zu fahren, kribbelte mein Bauch vor Aufregung. „Was hat dein Großvater eigentlich noch so für Bücher geschrieben?", kam mir ein Gedanke.
„Olivier Samuels? Ich glaube, die Sammlung siehst du dir am Besten selber an."
„Aber es ist nur für ein paar Tage, oder?" Er zuckte mit den Schultern.

„Ein paar Tage. Und wenn du in den Büchern versinkst eben auch länger." Ich drückte seine Hand.

„Klingt verzaubernd. Du hast nicht zufällig Lust, für mich auf Philines Modenschau einzuspringen?"

„Ich dachte, sie macht Mode für Frauen?"

„Wenn du dir eine Perücke aufsetzt, wird es keiner merken", argumentierte ich dagegen. Aber ich wusste, ich hatte verloren.

„Keine Chance, Lou." Plötzlich zogen dunkle Wolken auf und ich spürte erste Regentropfen auf meiner Nase.

„Natürlich habe ich keinen Regenschirm dabei." Aber auf einmal standen wir im Trockenen, während die anderen Passanten sich vor dem Schauer flüchtend auf den Nachhauseweg machten. Wenn ich es genau betrachtete, standen nur wir beide im Trockenen und die Regentropfen prallten an einer unsichtbaren Scheibe über uns beiden ab. Wie eine kleine persönliche Wolke, die statt schlechtem Wetter Sonnenschein verstrahlte. Ich sah verwundert zu Alex, der nicht überrascht schien.

„Bist du das?"

„Ein kleiner Trick, den ich geübt hab. Gefällt er dir?" Natürlich tat er das.

„Kann man so sagen." Ich ließ die Wolke verschwinden und der Regen prasselte auf uns hinunter.

„Ey!" Alex protestierte.

„Ist doch viel romantischer. Im Regen in Paris." Ich begann lachend zu rennen. Alex hatte keine andere Wahl als mir zu folgen.

„Das kriegst du zurück, weißt du das?" Aber er lachte auch.

„Ich weiß." Aber der Gedanke, dass ich nicht wusste wann, war es mir wert. Da war niemand, der Alex ein Messer an den Hals hielt oder meine Freunde entführte. Wir hatten ein Leben lang zeit. Theoretisch.

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