Gefangen unter der Erde

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Ungenauer Standort, heute

Mein erster Gedanke war: Ich lebe. Als ich wieder denken konnte. Denn es war eindeutig, dass ich lebte, ich konnte meinen Körper spüren und mir war schlecht. Die Umgebung war verschwommen und ich brauchte einige Zeit, um meinen Blick wieder zu fokussieren und den Brechreiz zu unterdrücken. Dann versuchte ich zu realisieren, dass ich es wirklich geschafft hatte: ich war teleportiert. Nur wohin? Ich kniete auf dem Boden eines kleinen Raumes mit Neonbeleuchtung und vornübergebeugt betrachtete ich den schrecklich grauen Linoleumboden, der eine Reinigung bitter nötig hatte. 

An der Wand hing ein schiefes Regal, dass vor etlichen Zeiten Bücher und eine Tasse gestützt hatte, die jetzt allerdings zerbrochen und zerfleddert auf dem Boden lagen. Direkt vor mir ein Bett, zerwühlt und mit nur einem Laken auf der dünnen Matratze. Und dann noch Flecken an der dunklen Betonwand, die ich auf keinen Fall identifizieren wollte. Eine dunkle Ahnung machte sich in meinem Kopf breit. Ich stütze mich auf meinen Händen ab und atmete tief ein und aus. Sobald ich mir sicher war dass ich meinen Mageninhalt bei mir behalten konnte, rappelte ich mich etwas schwankend auf und kontrollierte, ob alle Finger und Zehen auch wieder sicher am richtigen Platz waren. Soweit ich das auffassen konnte war ich immer noch Louise und alles war am richtigen Platz.

Ich war gerade noch in den Katakomben unter Paris gewesen, in Gesellschaft von Estella und Marléne, und jetzt war ich an diesem anderen Ort, der niemals das sein konnte, was ich zu glauben fürchtete. Ich ging die letzten Sekunden vor meiner... Auflösung im Kopf noch einmal durch und versuchte, Hinweise auf mein Verbleiben zu finden.

Wenn du an einen anderen Ort willst... dann muss da eine Sehnsucht sein. Fühlst du es? Oh ja, das hatte ich. Ich hatte die Sehnsucht gefühlt... zu Alex. Aber das konnte doch nicht sein. War er... etwa hier? War ich in Sibirien, einer Gegend so weit entfernt das man selbst mit dem Flugzeug etliche Stunde dort hin brauchte? Niemals, niemals. Hoffte ich. Ich musste hier raus, musste sofort wieder zurück, das war klar. Aber wenn ich wirklich hier war, dann war das eine einmalige Chance, die ich nicht verschwenden konnte.

Eine süße Versuchung nach einem unfreiwilligen Entzug. Wer konnte da schon widerstehen? Und wenn ich wirklich nur wenige Meter von ihm entfernt war, war der Preis für einen einzigen Blick auf ihn vergleichsweise klein. Also musste ich die Chance nutzen, die mir wie auf dem Präsentierteller angeboten wurde. Ich durfte keinen Moment zögern. Von einer plötzlichen Energie erfasst richtete ich mich auf und straffte die Schultern, dann griff ich nach der einzigen Tür, die den Ausgang bildete. Zu meinem Glück war sie nicht verschlossen und ich öffnete sie vorsichtig. Dann spähte ich dahinter. 

Die Tür zweigte an einen Gang, der zwar stärker beleuchtet war als die Abstellkammer, in der ich mich befand, aber auch nicht besser gereinigt. Trotzdem kannte ich diese Bauweise, diese schmutzigen fensterlosen und nicht zu enden scheinende Gänge, der graue Beton und das künstliche Licht. Ich war eindeutig zurück in Sibirien, an dem Ort, von dem ich im letztem Moment mit meiner Cousine geflohen war. Ich war zurück im Schlangennest der wahren Magier.

Alex war hier, jetzt war es eindeutig. War er etwa in dem Raum gefangen gehalten worden, in dem ich mich wieder materialisiert hatte? Beziehungsweise nicht gefangen gehalten, aber aufbewahrt. Soweit ich das mitbekommen hatte war Alex, mein Alex, von Viola in eine Art Koma versetzte worden, aus dem nur sie ihn wieder erwecken konnte. Und das würde sie nur tun, wenn sie ihren Willen bekäme. Also die Weltherrschaft, um es plump auszudrücken. Vielleicht war das hier die Möglichkeit, Alex und Selian zu befreien. Ein Alleingang, von dem mir jeder mit Nachdruck abraten würde. Aber ich wäre niemals so weit gekommen, wenn ich auf die anderen gehört hätte. Dann wäre ich wahrscheinlich immer noch in einem Unterkeller in Australien, abgeschnitten vom Rest der Welt und Violas Marionette, die ihr auf Schritt und Tritt gehorchen musste.

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