Trust Issues

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France, today

Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, das ich den Blumenaltar an der Eingangstür des Clubs nun lange genug betrachtet hatte und es Zeit war, mich meinem immer noch vorhandenen Orientierungsproblem zu stellen, wurde ich von einer jungen Dame, die etwas älter war als ich angesprochen.

„C'est une tragédie, non?" Als ich das Wort Tragödie aus ihrem sonst für mich unverständlichen Satz heraushörte, sagte ich einfach aus gut Glück ja.

„Äh... oui."

„Ah, Royaume-Uni?" Gut, dass ich mir wenigstens das französische Wort für Großbritannien aus dem Unterricht gemerkt hatte."
„Ja, Großbritannien." Die Dame lächelte kurz, als ich ihre Vermutung bestätigte.

„Ich war schon drei Mal dort, hat mir immer sehr gut gefallen." Ich wollte sie nicht mitten im Gespräch stehen lassen aber es war mir immer sehr unangenehm, wenn mich fremde Leute einfach so ansprachen und mit mir reden wollten. Ich war sowieso keine gute Gesprächspartnerin.

„Tut mir Leid, ich muss jetzt weiter..." Ich wollte schon gehen, bremste mich aber im selben Moment. „Warten Sie, könnten sie mir den Weg zum Gemüsemarkt im 14. Arrondissement beschreiben?" Wenn mir einer helfen konnte, dann ja wohl eine gebürtige Pariserin. Und das war sie aufgrund der modischen Kleidung und der Sprache ja wohl eindeutig.

„Oh, natürlich. Ich kann dich auch hinbringen, wenn du willst. Mein Ziel liegt genau dahinter."

„Das wäre toll!" Obwohl ich nicht scharf darauf war, die Unterhaltung noch weiter zu vertiefen ergriff ich die Chance und hängte mich an die Dame, die sich als Élise vorstellte.

„Ich bin nur froh dass keine meiner Freunde im Club waren, als das passiert ist. Eine schreckliche Vorstellung, so ersticken zu müssen."

„Sie waren schon mal in dem Club?"

„Nein, ich habe ehrlich gesagt noch nie davor etwas davon gehört. Mein Glück wohl." Hätte mich auch sehr gewundert, wenn sie ebenfalls eine Magiern gewesen wäre. Magier waren nicht so vertrauenswürdig und freundlich wie sie. Fast ein bisschen zu freundlich, meiner Meinung nach. Ich wollte keine neue Freundin fürs Leben finden, ich wollte einfach nur zu diesem beschissenen Markt und mich dann mit Estella endlich an die Zubereitung der erwarteten Lasagne machen.

„Studierst du hier?", fragte ich, als Élise anfing, mir den Aufbau der Stadt etwas genauer zu erklären.

„Ja, Philosophie im dritten Semester. Mein zweiter Anlauf." Wir überquerten eine Kreuzung und ich glaubte, mich langsam wieder an die Gegend zu erinnern.

„Ich glaube, ich weiß wo wir sind." Völlig begeistert von meinem Triumph merkte ich nicht, dass Élise statt rechts auf einmal links abbog. Aber vielleicht lag ich ja auch immer noch falsch.

„Müssen wir nicht da lang?", fragte ich trotzdem etwas verwirrt und zeigte in die Richtung, in der ich den Markt vermutete.

„Oh, ja, aber ich muss nur noch kurz einen Brief einwerfen. Ist nur ein paar Häuser weiter, keine Sorge. Dann bringe ich dich bis zum Markt." Ich runzelte die Stirn, beschwerte mich jedoch nicht. Ich folgte ihr und wie versprochen blieb sie ein paar Häuser weiter an einem Durchgang stehen, der in einen schmalen Hinterhof mündete.

„Bist du sicher...?" Ich hatte nicht wirklich den Eindruck dass es hinter diesem Hinterhof noch weiter ging, geschlagen denn zu einem Briefkasten.

„Ja, ich war schon total oft hier", erwiderte sie fröhlich und schien auf mich zu warten, während sie einen Schritt in den Hinterhof trat.

„Ich glaube ich warte lieber hier, okay?" Ich hatte nicht wirklich Lust mit den Ratten Paris' Bekanntschaft zu machen, ich wollte lieber hier stehen bleiben, wo man die Straße sehen konnte.

„Wie du willst." Élise zuckte mit den Schulter und ging alleine in den Hinterhof, dessen Großteil mir weiterhin hinter einer Ecke des Durchgangs verborgen blieb. Ich fühlte mich an der Straße wohler, an der ich Menschen vorbeikommen sah und kein so mulmiges Gefühl hatte. Ich wartete auf Élises Rückkehr und spielte währenddessen mit einem Faden meiner Jacke, den ich immer weiter aus dem Futter herauszog.

„Da bin ich wieder!" Ich fuhr erschrocken herum.

„Du hast mich vielleicht erschreckt."

„Sorry." Élise verzog zerknirscht das Gesicht. „Du, Louise, ich habe da noch eine Frage..."

„Klar, was?" Irgendwo in meinem Kopf schrillte eine Alarmglocke auf, doch ich ignorierte sie. Ich war inzwischen wirklich paranoid und irgendwie tat mir Élise Leid. Sie wollte nur nett sein und ich wies sie ab, obwohl sie nicht einmal etwas dafür konnte. Mir war wirklich nicht mehr zu helfen.

„Bist du eigentlich auch nur auf Besuch oder hast du vor, hierher zu ziehen?" Ich machte den Mund auf, um zu antworten, aber auf einmal piepste mich etwas in den Arm. Und gleichzeitig mit dem Schmerz breitete sich die Erkenntnis in mir aus. Klar, ich hatte ihr nie gesagt, dass ich Lou hieß. So weit ich mich erinnern konnte, hatte ich diesen Teil überhaupt ausgelassen und Élise hatte die ganze Zeit über nur von sich selbst erzählt. Ich reiß meinen Arm zurück und beobachtete mit Panik, wie sie eine Art Spritze zurückzog, die sie wohl zuvor in der rechten Hand versteckt gehalten hatte.

„Was zur Hölle ist das?"

„Nur ein Schlafmittel, Louise. Es fängt schon an zu wirken, merkst du? Und wenn du wieder aufwachst, wirst du bei Viola sein." Sie grinste hämisch und mich durchlief es heiß und kalt zugleich. Und außerdem wurde ich wirklich müde, eine Müdigkeit, die sich nicht nur in meinen Muskeln bemerkbar machte sondern auch mein Gehirn angriff. Ich konnte nicht mehr klar denken.

„Viola?" Du miese Verräterin. Aber ich wollte nicht, dass sie mich in die Finger bekam, nicht jetzt wo ich Estella gefunden hatte, meine Adoptiveltern hier waren, und wir einen Plan hatten mit dem wir nicht nur Alex sondern auch Selian retten konnten.

„Wehr dich nicht, das bringt sowieso nichts", säuselte Élise, wenn sie denn überhaupt so hieß. Eine brodelnde Wut stieg in mir auf, die wenigstens für einen Moment die Müdigkeit aufhielt.

„Weißt du, wer es nötig hat so was zu sagen? Jemand, der total unsicher ist. Ich bin mir sicher, dass mich niemand aufhalten würde, wenn ich weglaufe, oder? Du bist hier ganz alleine mit mir." Eigentlich sollte ich diejenige sein, die sich davor zu fürchten hatte.

„Das wirst du niemals herausfinden!", zischte Élise, aber ich hatte mir schon einen Plan zurechtgelegt. Mit einer präzisen Bewegung schleuderte ich sie von mir weg, bevor sie auch nur eine Chance hatte, sich zu verteidigen. Élise wurde an die Wand des Durchgangs geworfen und schlug mit einem Geräusch, das durch Mark und Knochen ging, an der Wand auf. Ich rührte mich erst nicht und wartete darauf, das mich die Müdigkeit übermannte und ausknockte. Aber ein Teil von mir konnte noch nicht aufgeben und so wankte ich zu Élise, mit einem flauen Gefühl im Magen.

Sie war bisher noch nicht aufgestanden und als ich nähertrat fiel mir die Platzwunde an ihrem Hinterkopf auf, die ihre bestimmt gefärbten blonden Haare dunkel färbte. Sie war doch nicht... Aber nein, sie atmete noch. Ich merkte, wie mein Sichtfeld sich langsam verdunkelte und ich stütze mich an der Wand ab. Dann begann ich mit letzter Kraft zu rennen. Zuerst wieder hinaus auf die Straße, dann den Gehweg entlang, durch die vielen Leute die alle mich zu beobachten schienen. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Ich merkte, dass ich immer schwächer wurde, obwohl ich nicht aufhörte zu rennen und mein Tempo auch nicht drosselte.

Ich rannte über eine Ampel, deren Farbe ich nicht erkennen konnte und ein Auto bremste scharf vor mir ab, hupte hektisch. Ich achtete nicht darauf und lief weiter, immer weiter. Die Richtung war mir nicht ganz klar, aber ich hoffte, dass mich meine Füße automatisch zu Estella führen würden. Mein Sichtfeld verkleinerte sich und ich merkte, dass ich in die Schwärze gezogen wurde, die sich langsam von den Seiten meines Gesichtsfeldes auszubreiten schien. Ich versuchte weiter zu kämpfen, verlor aber diesmal. Als meine Beine nicht mehr gehorchen wollten knickte ich ein und schloss die Augen, als ich den Beton des Gehsteigs auf mich zurasen sah. Die Arme zu heben, um meinen Aufprall abzufedern, schaffte ich nicht mehr. Aber das war mir im Moment auch ziemlich egal, das letzte was ich mitbekam waren die Schreie der Passanten, die meinen Unfall bemerkten und mit geweiteten Augen zusahen, wie das Mädchen vom einen Moment auf den anderen stolperte und fiel.

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