Stadtranddrama

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London, 2000

Es war keine nebelverhangene Nacht, in der sie ihr beschämendes Vorhaben umsetzte. Im Gegenteil, die immer länger werdenden Frühlingsnächte waren zwar kalt, aber heute schien die Sonne den Boden immerhin soweit aufgeheizt zu haben, dass man mit einer dicken Jacke bekleidet ohne Probleme länger draußen herumlaufen konnte. Sie war aufgeregt und ihr war schlecht zugleich, wahrscheinlich hing das zusammen. Wenn jemand von den Passanten hier ihre Gedanken hören könnte würde er sie umstehend in die Psychatrie. Was dachte sie sich dabei, hier einfach so ein Neugeborenes auszusetzen? Ein kleines, unschuldiges Baby das nichts lieber hätte als bei seiner Mutter aufzuwachsen. Aber es ging nunmal nicht. Und sie war jetzt schon so weit gekommen. Sie war sich sicher, dass sie ihre Spur in den letzten neun Monaten soweit verwischt hatte, dass sie sich nun für einige Tage sicher hier aufhalten konnte. Sie wollte doch nicht weiter für ihr kleines Baby als Sicherheit. Und das gab sie ihm hiermit. Eine Sicherheit, eine glückliche Kindheit zu haben. Nicht mit diesen ganzen Probleme zu leben, die ihr automatisch Leben mit sich brachte. Außerdem war in ihrem Leben einfach kein Platz für ein Kind. Sie musste jetzt mit ihm abschließen. Ihre forschen Schritten verlangsamten sich, als sie langsam ihr Ziel erreichte: ein Waisenhaus am Rande der Stadt. Na ja, eher am Rande der Innenstadt. Aber sie war sich sicher, dass die kleine hier gut aufgehoben wäre. Sie ermöglichte ihr das Leben, dass sie sich immer gewünscht hatte.

Eigentlich war sie sich nicht ganz sicher, was sie jetzt zu tun hatte. In Filmen kam das immer so einfach rüber: Man stellte den Korb mit dem Baby ab, vorzugsweise in der Babyklappe, von der sie sich sicher war, dass sie hier nicht existierte. Außerdem brauche sie noch einen Moment, um sich wirklich zu verabschieden. Denn das war ein Abschied für immer, das wusste sie ganz genau. Sie konnte es sich nicht leisten, die Sicherheit der Kleinen zu riskieren, indem sie alle fünf Monate vorbeischaute. Sie übergab sie wirklich ganz in die Obhut in die anderer und zu sagen das wäre einfach, war eine Lüge. Sie war hier, das große Haus mit der weißen Fassade und den drei Stufen zum Eingang schien einladend. Die Lichter im Haus brannte und wenn sie ihre Augen anstrengte konnte sie sogar hin und wieder ein lachendes Kind hinter den Fenstern vorbeilaufen sehen. Das war der richtige Platz. 

Sie stand auf der anderen Straßenseite und stellte den Korb mit dem Baby auf einem Mauervorsprung ab, um nochmal einen Blick auf das winzige Gesicht zu erhaschen, das wirklich entfernte Ähnlichkeit mit ihren eigenen Zügen hatte. Oder waren es etwa die des Vaters? Das Gefühl berauschte sie und fast hätte sie wieder geweint. Aber das brachte doch auch nichts. Die Kleine wusste nichts von der bevorstehenden Trennung mit ihrer Mutter und würde sich später wahrscheinlich nicht mal mehr an sie erinnern können. Das war so unfair. Aber die drei Wochen, in denen sie mit dem Baby durch die Welt gereist war, hatten ihr gezeigt, dass es so nicht ging. Die Kleine war zu früh gekommen, auf dem Weg von Marseille nach Cork. Danach war sie weiter nach London gereist, das Baby entweder unter ihrer Jacke verborgen oder in dem kleinen Korb. Aber mit so einem Baby war es schwieriger zu reisen, und noch schwieriger vor etwas wegzulaufen. Ständig hatte es Hunger und sie musste anhalten. Dann wollte es schlafen. Aber sie hatte England schon immer gemocht und war sich sicher, dass ihre Kleine hier ein wundervolles Leben verbringen würde. Sie holte die Geburtsurkunde aus ihrem Mantel, auf der neben dem Namen des Babys noch das Geburtsdatum vermerkt war. Den Abschnitt mit dem Namen der Eltern hatte sie rausgerissen. Darauf standen sowieso falsche Angaben. Sie hatte ihrem Baby einen Namen geben wollen, der neben allem anderen wenigstens einen Funken Wahrheit enthielt. Die Cartiers waren eine stolze Familie und sie sollte wenigstens wissen, dass sie Französin war. Sie steckte die Urkunde in einen Umschlag, den sie bei einer Papeterie in der Innenstadt gekauft hatte. Ganz übliche Markenumschläge die keiner zurückverfolgen konnte, wenn es so weit kommen sollte. Dann war es jetzt wohl Zeit, Auf Wiedersehen zu sagen. Sie strich dem Baby über die zarten Wangen und küsste es auf die Stirn.

„Bye, Louise. Du wirst mich sowieso bald vergessen." Sie liebte das Baby mit ihrem ganzen Herzen, und deswegen musste sie das hier tun. Langsam ergriff ihre Hand den Henkel des Korbes und sie war drauf und dran, ihn hochzuheben und es zu beenden. Aber dann übermannten ihre Gefühle sie und sie kramte hektisch nach einem Zettel und Stift in ihrer Jackentasche. Verdammt, da war kein Zettel. Der Kugelschreiber, den sie bei irgendeiner Veranstaltung gute Dienste geleistet hatte funktionierte, aber ohne Zettel war das nichts. Dann musste eben der Umschlag dafür herhalten. Sie riss ein Stück aus dem Umschlag und kritzelte darauf zwei Wörter. Natürlich würde sie das später bereuen, aber in diesem Moment fühlte es sich an wie die richtige Entscheidung. Vielleicht, ganz vielleicht, erlaubte sie sich einen Gedanken, vielleicht würde sie ja nach ihr suchen. Wenn sie groß war. Vielleicht hätte sich die Lage dann geändert. Vielleicht würde sie ihr Baby noch einmal sehen, dann schon groß und erwachsen. Wie sie wohl aussehen mochte, mehr wie Selian oder mehr wie sie? Was wohl ihre Schwester zu dieser Aktion sagen würde? Sie würde sie verspotten und sagen, dass sie nicht genug Mut habe, um ein Kind großzuziehen. Weil sie das ja selbst so erfolgreich gemeistert hatte. Aber ihre Schwester war einfach anders. Außerdem, sie war noch so jung. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. 

Der Umschlag war fertig, etwas demoliert, aber er enthielt die wichtigsten Informationen. Dann war das jetzt wohl der Abschied. Eine Träne schaffte es trotz ihres enormen Widerstandes über ihre Wange und tropfte auf die warmen Straßensteine. Sie hob den Korb auf und versuchte, so natürlich wie möglich zu wirken, als sie langsam in einem großen Bogen auf die andere Straßenseite schlenderte. Immer langsamer, noch langsamer. Aber dann war sie da und sie musste handeln. Jemand würde sie doch sehen, wenn sie hier noch länger stehen blieb. Sie dachte an all die Punkte, die gegen ein normales Leben sprachen und fasste ihre Entscheidung, diesmal für immer. Sie stellte den Korb mit dem Baby ab und lächelte den kleinen Menschen an, der zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Dann klingelte sie und lief rasch die Straße hinunter. Bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, jemand drehte ihr das Herz in der Brust um und sie würde gleich ohnmächtig werden. Schließlich versteckte sie sich hinter einem Auto und beobachtete den Eingang des Waisenhauses, der sich doch jeden Moment öffnen musste. Und dann würde jemand den kleinen, verlassenen Menschen auf den Stufen entdecken, der so hilflos und klein und viel Liebe bedurfte. Sie hörte, dass das Baby anfing zu schreien. Was war los, war ihm kalt? Aber sie konnte nicht hin, nicht jetzt! Es war zu spät! 

Aber dann öffnete sich endlich die Tür und eine junge Frau steckte den Kopf hinaus. Als sie das Baby entdeckte, weiteten sich ihre Augen. Sie hörte nicht, was sie sagte, aber es musste wohl etwas so sein wie Mein Gott, wo kommst du denn her? Und dann nahm sie den Korb auf den Arm und betrachtet die Kleine glücksselig, strich ihr über die Wange wie sie zuvor und wiegte den Korb in den Armen, bis das Baby aufhörte zu schreien. Ja, das war die richtige Entscheidung gewesen. Ihr Baby war hier gut aufgehoben. Die junge Frau zog den Umschlag aus dem Korb und wendete ihn gedankenverloren in ihren Händen. Dann drehte sie sich um und trug das Baby mit sich ins Haus. Drinnen würde sie den Umschlag öffnen und ihren Namen hoffentlich gut verwahren. Oder auch nicht. Dann schloss sich die Tür und sie schluchzte auf, als sich das Leben ihres kleinen Babys endgültig von ihrem trennte. Das war es jetzt, es war getan. Vielleicht würde es ja irgendwann einfach werden, sich nicht mehr so katastrophal anfühlen. Aber jetzt gerade wollte sie einfach nur noch ihr Baby zurückholen oder sterben. Aber sie war stark, schon immer. Und deswegen tat sie jeden Schritt weg von dem weißen Haus mit Gewissheit und versuchte sich von dem kleinen Baby zu trennen. Was würde sie jetzt tun? Zurück nach Frankreich und ihr Versteckspiel weiter führen? Oder vielleicht die Welt bereisen, Ablenkung finden. Wahrscheinlich eher das. Am Besten, sie kaufte sich gleich ein Flugticket von dem verbliebenen Geld. Kanada? Da würde sie mit ihrem Französisch nicht weiter auffallen und könnte sich eine andere Identität aufbauen. Und vielleicht, in mehreren Jahren, könnte sie es wagen hierher zurückzukommen und nochmal einen Blick durch die Fenster des Hauses zu werfen. Vielleicht würde sie ja ein kleines Mädchen erkennen, dass mit den anderen Kindern lachend durch die Zimmer des Hauses rannte.

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Wie gefällt euch der Rückblick in die andere Zeit? Ich hoffe ich habe die Gefühle so gut wie möglich rübergebracht  und ihr könnt die Motive ansatzweise verstehen. 

LG, itsravenmoon

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