Höhlenleben

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Paris, heute

Als ich landete, war ich allein. Ich beschreibe den Vorgang des Rückmaterialisierens als Landen, weil alles andere schlicht und einfach zu kompliziert wäre. Ganz denken konnte ich jedenfalls erst wieder, als ich voll und ganz mit beiden Füßen auf dem Boden stand. Wie schon zuvor brauchte ich auch jetzt wieder einen Moment um mich zu sammeln und meine Umgebung wahrzunehmen. Zuerst war ich irritiert und glaubte, ich wäre immer noch in dem kleinen schmutzigen Zimmer in den Tiefen Sibiriens. Es war stockdunkel. Wo war ich jetzt schon wieder hineingeraten? 

Ich hatte Estellas Ratschlag befolgt und diese Sehnsucht nicht auf einen Ort, sondern auf einen Menschen projiziert. Wen hatte ich mir also diesmal vorgestellt? Ich tapste einige Schritte in der Dunkelheit nach vorne und stolperte prompt über meine eigenen Füße. Meine Hände machten Bekanntschaft mit einem sehr staubigen und felsigen Untergrund. War das... die Höhle? Ich glaubte zu wissen, wo ich gelandet war. Ich war zurück in den Katakomben. Aber wenn mich mein Gefühl hierher geführt hatte, war ich nicht alleine im Dunkeln?

„Hallo?" Obwohl ich leise wisperte, hallte das Wort durch die ganze Höhle und wurde immer lauter, bis es plötzlich wieder verstummte. In der Dunkelheit hörte ich ein Brummen. Es klang gefährlich, wie das Knurren eines Bären. Lebte hier etwa ein Bär?

Aber dann wurde es auf einmal hell, so hell wie am lichten Tag draußen und ich schloss geblendet meine Augen. Als ich blinzelte erkannte ich eine Gestalt am Fuß der Treppe ins Freie. Ich war wirklich mitten in der Höhle gelandet. Als ich meine schmutzigen Hände an der Hose abwischte, lief die Gestalt aufgebracht auf mich zu.

„Lou!" Estella hatte hier auf mich gewartet, durchzuckte mich ein Gedanke. „Dir geht es gut!" Sie hatten also wirklich mit dem Schlimmsten gerechnet. Eigentlich hatte ich nur ein paar Meter weiter teleportieren sollen. Gelandet war ich in einem anderen Land. Entfernungen wurden aber auch überschätzt.

„Ja." Meine Stimme klang heiser und entsprach in etwa meinem Zustand. Ich war fertig, mit den Nerven als auch körperlich. Teleportieren kostete einen wirklich ein kleines Stück der Seele, wie Philine es einmal so schön ausgedrückt hatte. Sie selbst hatte es allerdings beim ersten Mal geschafft, am vereinbarten Ort wieder aufzutauchen. „Du willst nicht wissen, wo ich war."

„Wir haben gedacht du bist..." Sie deutete nach oben und fuchtelte in der Luft herum.

„Nein, nicht ganz. Ich habe das mit der Sehnsucht wohl nur etwas zu wörtlich genommen. Wie lange war ich weg?"

„Einen ganzen Tag! Chris und Sandra sind ausgerastet. Sie haben mich dafür verantwortlich gemacht. Deswegen bin ich hergekommen. Ich hatte gehofft... Und dann bin ich wohl eingeschlafen." Sie deutete wieder auf die Treppe, auf der sie anscheinend die ganze Zeit gesessen hatte. Ich sah mich in der Höhle um. Marléne und die anderen waren wie ich ebenfalls verschwunden und von ihren Sachen hatten sie nur das nötigste hier gelassen. Estella folgte meinem Blick durch die Höhle.

„Ich habe sie zu Emanuel gebracht. Sie können uns helfen, Violas treue Helfer in Schach zu halten. Ich bin so froh dass es dir gut geht! Es wäre nicht auszudenken gewesen..." Ich konnte das Entsetzen, dass sie wohl in den letzten Stunden verspürt hatte, an Estellas Gesichtsausdruck ablesen. Als ich etwas schwankte, zögerte Estella nicht lange und griff mir wortwörtlich unter die Arme, um mich aufrecht zu erhalten.

„Ich glaube, du hast uns schuldest mir eine Geschichte." Ich nickte.

„Bringst du mich zu Emanuel? Ich glaube, sie wird ihn auch brennend interessieren."

Das Gespräch wurde dann doch emotionaler als erwartet. Nicht nur dass meine Cousine aus lauter Wiedersehensfreude wortwörtlich wie eine Klette an mir hing, beim Gedanken an das Gesehene stiegen mir wieder Tränen in die Augen. Emanuel hörte gespannt zu und Estella saß angespannt daneben. Außerdem lauschten meinem Abenteuer auch Jackson, seine beiden Kompagnons und Marléne, wobei ich bei jedem der vier einen Schimmer der Hoffnung in ihren Augen aufglimmen sah, der bei jedem kleinsten Detail über die Lage unter der meterhohe Schneedecke in Sibirien zu wachsen schien.

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