Make a wish...

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London, 2014

Es fing damit an, dass Sandra ihre Morgen nur noch über der Kloschüssel verbrachte und auch sonst eher kraftlos war. Für eine Schwangerschaft war das völlig normal, das war mir klar. Aber ich vermisste die Sandra, mit der ich schon morgens lange Spaziergänge machen konnte und spontan einen Ausflug in die Stadt unternahm. Ich hatte mehr Zeit für mich alleine, aber im Gegensatz zu jedem anderen Jugendlichen in England genoss ich es nicht, alleine in meinem Zimmer zu sitzen und Musik zu hören. Mein Leben wurde von Grund auf auf den Kopf gestellt und ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, von jetzt an etwas selbstständiger zu sein. Mehr mit Freunden unternehmen, mehr aus dem Haus gehen und meine Umgebung ohne meine Eltern zu erkunden. Das Risiko, enttarnt zu werden stieg damit enorm an und war einer der Gründe warum ich die Umstellung nicht ohne Bedenken hinnahm.

Trotzdem passte ich mich irgendwie an die Situation an und begleitete Sandra sogar auf einige Termine im Krankenhaus, um das Baby auf dem Monitor mit eigenen Augen zu sehen. Vor einigen Tagen hatte Sandra wieder einen dieser Termine ausgemacht, allerdings eher auf Anraten ihrer Hausärztin, nachdem Sandra aufgrund einer anfangs eher harmlos aussehenden Erkältung eine Woche nicht in die Arbeit gehen konnte. Und ich hatte zugesagt sie zu begleiten da Chris keine Zeit hatte. Ich bereute es schon beim Einsteigen in den Wagen. Es war nicht so dass ich mich nicht mit den Fakten abfinden wollte, ich hatte eher das Gefühl dass ich dieses kleine etwas niemals als Geschwisterlichen annehmen konnte. Vielleicht war es Eifersucht, vielleicht auch Unverständnis für einen Menschen, den ich noch nicht einmal kannte. Wenn ich meinen Adoptiveltern davon erzählt hätte wäre ihre Antwort bestimmt gewesen, dass ich mich mit der Zeit an ein anderes Kind in unserem Haus gewöhnen würde. Deswegen hielt ich lieber den Mund.

Schon die Anfahrt war eine absolute Zumutung, der Londoner Verkehr hielt uns glatte fünfundvierzig Minuten auf der Straße gefangen, und das, obwohl die Strecke nur knappe fünfzehn Kilometer waren. Das Krankenhaus, das unserem Wohnort am nächsten war käme zwar für die Geburt in Frage, allerdings hatten sie uns dort aufgrund der knappen Terminplanung auf ein anderes Krankenhaus verwiesen.

„Kannst du mir mal bitte ein Taschentuch geben?", schniefte Sandra am Steuer, während sie gleichzeitig versuchte das Auto und ihre laufende Nase zu koordinieren.

„Hier." Ich kramte eines au der Mittelkonsole hervor und hielt es ihr hin.

„Danke, Lou. Ich weiß echt nicht, was das ist. Klar ist mein Immunsystem geschwächt, aber gleich bei einer einfachen Erkältung?"

„Vielleicht hast du dir ja was anderes eingefangen." Sandra seufzte.

„Hoffen wir mal lieber nicht, sonst stecke ich euch wahrscheinlich auch noch an. Außerdem ist das gefährlich für das Baby." Ich sah aus dem Fenster und starrte die vorbeiziehenden Backsteinhäuser an. Warum hatte nicht alles so bleiben können wie es davor war? Mein Leben war nah an perfekt gewesen. Meine Fähigkeiten ausgenommen. Okay, und vielleicht auch die Schule. Es war zwar nicht schwer, aber mit sozialen Kontakten tat ich mir nach wie vor schwer. Soweit ich das beurteilen konnte, kannte ich alle Leute, die ich meine Freunde nannte nur über Emily.

„Endlich, ich dachte schon der rote BMW hinter uns fährt mir bald hinten rein, so langsam wie wir fahren mussten", meinte Sandra erleichtert als wir endlich die Ausfahrt der gestopften Straße erreicht hatten und den stehenden Verkehr hinter uns ließen. Ich schluckte und dachte an die weißen Gänge und den strengen klinischen Geruch des Krankenhauses, der uns beide jetzt erwartete. Ich mochte keine Krankenhäuser, hatte sie noch nie leiden können und das würde sich so bald auch nicht ändern. Schlimmer war es nur, wenn wir wegen mir da gewesen wären. Obwohl es nur ein Krankenhaus außerhalb der Stadt war, fanden wir es auch hier schwer einen Parkplatz zu finden und entschieden uns schließlich für das alte Parkhaus am Fuß des Hügels, über den sich das Krankenhausgelände erstreckte. Sandra wuchtete sich und ihren noch nicht so ausgeprägten Babybauch aus dem Auto und erinnerte mich daran, ihre Tasche von der Rückbank des Autos nicht zu vergessen. Dann machten wir uns auf den Weg den Hügel hinauf.

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