Tauchstation

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France, today

Das Abendessen mit Estella lief normaler ab als erwartet. Meine Gedanken kreisten zwar immer noch um den Anschlag und die beiden verlorenen Menschenleben, aber ich konnte mich immerhin so gut verstellen dass Estella nichts von meiner schlechten Laune bemerkte.

„Sag mal, hast du eigentlich einen Freund?" War ja klar das diese Frage irgendwann mal kommen musste.

„Ja, doch, eigentlich schon."

„Eigentlich?"

„Er ist..." Jetzt war wohl der richtige Zeitpunkt, um mit der verrückten Geschichte herauszurücken.

„Ja?"

„Kennst du eine gewisse Viola Samuels?"

„Meinst du etwa DIE Viola Samuels? Größte Verbrecherin auf diesem Planeten? Was zur Hölle hat dein Freund denn mit der zu tun?" Oh, das würde wirklich interessant werden.

„Er ist ihr Neffe." Estella wurde blass.

„Diese Familie bringt nur Unglück, Louise!"

„Ich weiß, ich weiß", beschwichtigte ich sie. „Aber Alex ist anders. Er hat sich gegen Viola gewendet... und ich bin mir nicht ganz sicher ob er noch lebt oder nicht."

„Oh mein Gott. Das ist wohl der Zeitpunkt, in dem du eine Umarmung bräuchtest?"

„Wäre ganz gut." Also umarmte sie mich.

„Weißt du, Selian hat sich damals für Viola entschieden. Zwar nicht direkt für sie, aber für ihre Organisation. Und das hat mir das Herz gebrochen. Danach bin ich nach London, habe dich dort bekommen... und den Rest der Geschichte kennst du ja." Dann würde sie das, was ich ihr jetzt gleich mitzuteilen hätte, ziemlich überraschen.

„Er hat sich nicht für Viola entschieden, im Gegenteil, er hat sich für dich entschieden! Er wollte dich beschützen und ist deswegen dort geblieben..." Estella sah immer noch aus als würde sie an der Wahrheit meiner Worte zweifeln. „Ich bin vor Viola geflohen. Weil ich eigentlich dachte, sie ist tot. Na ja, lange Geschichte. Auf jeden Fall hat mir Selian bei der Flucht geholfen und sich dann Viola gestellt. Und ich weiß nicht, wie das ausgegangen ist. Nebenbei hat sich auch noch Alex auch noch etwas angetan das ihn einfach ausgeschaltet hat und..."

„Das klingt wie ein einziges riesiges Chaos", meinte Estella. „Das heißt, Selian könnte..." Keiner von uns beiden wagte es auszusprechen.

„Eventuell."

„Wir müssen zu ihnen." Es gab mir Hoffnung das meine leibliche Mutter das gleiche Bedürfnis hatte, zu diesem schrecklichen Ort zurückzukehren und sich dem Chaos zu stellen. Und es ein für alle mal zu beenden."

„Das Ding ist, ich habe keine Ahnung wie wir die beiden retten sollen, ohne das Viola etwas davon mitbekommt. Philine meinte dass sie die beiden als eine Art Versicherung bei sich behält, damit ich auch wirklich zu ihr zurückkomme."

„Wieso?" Oh ja, noch so etwas verrücktes.

„Anscheinend habe ich magische Superkräfte, jedenfalls laut Viola. Schau nicht so, ich weiß wie das klingt."

„Das ist mein stolzes Gesicht."

„Oh. Ja, auf jeden Fall soll ich jemanden umbringen, der ihr gefährlich werden könnte."

„Emanuel Gilberto?"

„Ja, genau der. Wie kommst du auf ihn?"
„Die beiden haben schon immer eine Abneigung gegeneinander gehabt. Sie führen schon ein lebenslanges Kätzchen und Maus- Spiel. Wobei Viola die Maus ist."

„Bis jetzt."

„Exakt. Aber wir kriegen das hin, Louise. Ich gebe nicht auf bevor ich die beiden da sicher rausbekommen habe." Der Satz hätte auch von mir sein können.

„Und wie sollen wir das anstellen?"

„Das ist eine Sache über die ich noch nachdenken muss. Und es ist spät. Ich schlage vor, wir reden morgen weiter, okay?" Ich hatte keine andere Wahl als einzulenken.


Acht schlaflose Stunden später schloss ich leise die Tür des Gästezimmers hinter mir. Ich hatte beschlossen, die Zeit wenigstens zu nutzen wenn ich schon nicht schlafen konnte und mir und Estella etwas zum Frühstück zu machen. Ich wusste, dass das Essen wahrscheinlich nicht an das ihre herankommen würde, aber schließlich zählte ja der Gedanke, nicht wahr? Aber zu meiner Überraschung war Estella bereits auf und nippte an einem Glas Orangensaft, während ihr Blick über das Meer wanderte.

„Ich habe nachgedacht, Louise. Wirklich viel nachgedacht." Schien als hätte sie auch nicht viel geschlafen. „Pack deine Sachen, von hier aus können wir nicht wirklich viel ausrichten."

„Du gehst zurück?" Sie lächelte leicht gequält.

„Ich habe mich sowieso schon viel zu lange vor der Welt versteckt. Dein Auftauchen war nur der Anstoß zu langen Überlegungen."

„Okay, und wo fahren wir hin?"

„Ich würde sagen Paris. Direkt in die Höhle des Löwen."


Ich verschlief die Fahrt. Kein Wunder, mein Schlafrythmus war nach letzter Nacht wirklich durcheinander gekommen. Deshalb war ich verwirrt, als ich die Augen aufschlug und die Felder und das Grün am Straßenrand den Häusern und Wohnvierteln der Pariser Vororte gewichen war.

„Sind wir schon da?", fragte ich Estella verschlafen, doch sie schüttelte nur den Kopf.

„Noch nicht ganz. Außerdem wird uns der dichte Verkehr auch noch zusätzlich aufhalten." Sie atmete tief ein. „Es ist schon komisch, jetzt wieder hier zu sein. Ich habe die vielen Menschen vermisst." Für mich hatte sich die Geschichte bis jetzt so angehört, als sei sie freiwillig auf Tauchstation gegangen.

„Hast du dir das nicht ausgesucht? Ich meine, komplett abzutauchen?" Estella schüttelte energisch mit dem Kopf.

„Es stimmt schon, ich habe die Auszeit gebraucht, aber ich bin hauptsächlich abgetaucht weil es in Paris zu gefährlich für mich wurde. Ich habe... sagen wir ich habe einige Dinge getan auf die ich heute nicht mehr stolz bin. Wie gesagt, das schwarze Schaf der Familie."

„Was für Dinge?" Ich wollte unbedingt mehr über Estella wissen, seien es noch so dumme Fehler die sie begangen hatte.

„Drogenhandel. Nicht im großen Stil, aber genug um mich hinter Schloss und Riegel zu bringen. Meine Familie hatte mir damals den Geldhahn zugedreht und ich musste schauen, wie ich alleine über die Runden kommen wollte. Zu diesem Zeitpunkt erschien mir das die einfachste Lösung." Es schien meiner Familie im Blut zu liegen, ständig vor der Polizei davonzulaufen.

„Und deshalb bist du abgetaucht?"

„Ja. Ich musste ein bisschen Abstand zwischen mich und diese Dinge bringen. Das Cottage... wir haben es uns damals gekauft, weißt du? Selian und ich. Das war der einzige Zufluchtsort an den ich denken konnte."

„Er hat erraten, wo du bist", erklärte ich Estella. „Kurz bevor ich ihn in Sibirien aus den Augen verloren habe hat er es mir gesagt." Ich hatte den Eindruck dass Estella bei der Erwähnung von Selians Namen einen verzweifelten Ausdruck bekam. Sie wollte ihn auf jeden Fall befreien. Und vielleicht würden sie sich ja nach all den Jahren wieder verlieben.

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