Die Schönen und die Biester

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Paris, today

Ich fühlte die gleiche Nervosität wie Philine, als es fünf Minuten nach der abgemachten Zeit an der Wohnungstür ihres Penthouses klingelte. Wortlos sahen wir uns an und nickten, während ich die letzte Schüssel mit aufgeschnittenem Baguette auf dem Esstisch platzierte. Dann wuselte Philine auch schon davon und ließ mich allein zurück, um ihre Eltern zu begrüßen.

„Mon chérie, ça va?"

„Tout bien, Maman, merci." Schritte, die sich näherten. Ich war kurz davor an meinem Fingernagel zu kauen, konnte mich dann aber doch davon abhalten, diese nervige Angewohnheit wieder aufzunehmen. Wir hatten keinen Plan, wie dieser Abend ablaufen sollte, ich wusste nur, dass jetzt der Moment kam, in dem Philine mich als verschollene aber glücklicherweise wieder aufgetauchte Nichte vorstellen musste. Und darauf war ich nicht vorbereitet, ich hatte mir keinen Text zurechtgelegt, schon gar keinen Französischen. Glücklicherweise wechselte das Gespräch im Wohnzimmer in diesem Moment auf Englisch und ich verstand, was da genau vorging.

„Ich habe noch jemanden eingeladen", erklärte Philine in diesem Moment ihren Eltern. So wie sie es sagte, gab es nichts daran zu rütteln. Es war eine Information, die sie ihren Eltern mitteilte und an der sie nichts auszusetzen hatten.

„Chérie, pourqoui? Ich hatte doch gesagt dass Papa und ich heute vorbeikommen, das ist ein Familienessen." Sinias Englisch war nicht zu vergleichen mit dem von Estella. Also lag es wohl nicht an den Genen.

„Oh, sie ist Familie." Das war dann wohl mein Auftritt. Ich erschien mit einem gezwungenen Lächeln in der Tür zum Esszimmer und bereute es sofort, nur meine schwarze Hose und eine mir elegant erscheinende rote Bluse angezogen zu haben, im Gegensatz zu Philines Eltern und ihr selber war ich eindeutig underdressed. Philines Mutter hatte keinerlei Ähnlichkeiten mit Estella, ihre Haare waren blond gefärbt und ließen sie mindestens um zehn Jahre jünger aussehen, als sie es in Wirklichkeit war. Vielleicht lag das aber auch an den Schönheitsbehandlungen, die sie in Anspruch nahm. Sie trug eine seidene Tunika, als hätte das Thermometer es an diesem Tag nicht nur knapp über die zehn Grad geschafft. Sie betrachtete mich kritisch und schien mich in eine der vielen Schubladen stecken zu wollen, die sie wahrscheinlich für jeden parat hielt. Philines Vater war allerdings auch nicht besser, von der funkelnden Rolex an seinem Handgelenk mal ganz abgesehen. Sein Anzug schien wie gemacht dafür, andere Leute einzuschüchtern und ihnen im selben Moment, in dem man sie sah, klarzumachen, wer die höhere Stellung hatte. Nämlich nicht ich. Keiner von beiden lächelte, als ich unsicher die Hand hob um mich vorzustellen.

„Hey, ich bin Louise."

„Louise wer?", fragte Sinai, während sie eingehend ihre Fingernägel betrachtete.

„Äh... Louise Cartier."

„Du bist doch unmöglich eine Cartier, ich habe noch nie von dir gehört", sagte sie mit einem Akzent, den ich vielleicht sogar als niedlich bezeichnet hätte, wenn sie nicht so arrogant gewirkt hätte.

„Maman, lass sie doch erst einmal ausreden! Louise ist Estellas Tochter." Das bewirkte, dass Sinia endlich aufsah und mich wider Willen eingehend musterte.

„Estella hat keine Tochter."

„Wie willst du das wissen? Sie war vor achtzehn Jahren ganz genau ein Jahr verschwunden. Das Jahr, in dem sie Louise bekommen hat."

„Raffelle Sauveterre", stellte sich nun Philines Vater vor, während er mir eine Hand entgegenstreckte. Ich war dankbar über die kleine Geste der Höflichkeit, die mir wenigstens ein bisschen Hoffnung gab, dass der erste Eindruck von Philines Eltern nicht auch der letzte sein würde.

„Und das ist meine Maman, Sinia Cartier."

„Wieso erfahre ich erst jetzt davon?", wollte Sinia wissen. Mit dem davon meinte sie wohl mich.

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