Der Gott des Gewissens

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Sibirien, heute.

Ohne Alex noch länger hinhalten zu müssen horchte ich nach dieser Kraft, diesem Kribbeln, das sich auch Magie nannte. Da war zwar etwas, ich konnte aber unmöglich sagen ob es meine Kräfte oder nur die Angst war, die sich in meinem Bauch ausbreitete. Aber es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

„Lou!" Alex schrie auf, als ich einen Schritt nach vorne machte, direkt hinein in das elektrische Feld. Es fühlte sich gar nicht so schlimm an, wie ich befürchtet hatte. Ich wurde weder durchgeschüttelt noch piksten mich tausend Nadeln überall auf meiner Haut. Nein, im Gegenteil, plötzlich stand ich wieder auf der anderen Seite und hörte, wie die Platten scheppernd zu Boden fielen. Ich drehte mich schwungvoll um und sah, dass das Feld verschwunden war.

„Das war... krass." Alex hatte seinen Job aufgegeben und ich spürte, dass sich die Resistenz des Metalls wieder weiter ausbreitete. Aber sie war weniger geworden. Hier, hinter dem Feld, bestanden die Wände nur noch aus stinknormaler metallischer Verkleidung, die uns nichts anhaben konnte. Alex rannte durch die eben noch existierende Todeszone wirbelte mich einmal herum.

„Du hast es geschafft!" Dann strich er mir über den Kopf und ich zog verwirrt eine Augenbraue nach oben. „Deine Haare", er begann zu lachen. Aber diesmal ein richtiges Lachen, eins, bei dem einem warm wurde und man mitlachen wollte. „Du siehst aus wie ein kleiner Igel." Ich schielte nach oben. Oh. Er hatte recht, offensichtlich war ich doch nicht so unbeschadet davongekommen. Nachdem wir meine Haare durch unzähliges über den Kopf streicheln wenigstens so gebändigt hatte, dass ich nicht mehr als wilde Piratin mit Krausenkopf durchging, war dieses Glücksgefühl, das ich eben verspürt hatte, auf einmal wieder weg. 

Wir hatten es zwar geschafft unserem Gefängnis zu entkommen, aber wie ging es jetzt weiter? Und Marléne, fiel es mir siedend heiß ein, Marléne musste nun schon seit geraumer Zeit bei Viola angekommen sein! Und ob der Kampf ganz oben noch immer so brutal vor sich hin brodelte? Hatte Viola etwa schon gewonnen? Alex musste mir angesehen haben, dass mir tausend Fragen durch den Kopf gingen. Er legte fast schützend seinen Arm um mich und ich begab mich für einen Moment in eine Welt, in der es nur noch ihn und mich gab.

„Selian, ich muss ihn für Estella suchen! Und Marléne!" Schließlich war Estella vorhin mit Philine verschwunden und ich hatte keine Ahnung, ob und wie sie Hilfe gefunden hatten.

„Ich suche nach Selian", schlug Alex vor. „Es ist wahrscheinlich, dass sich Viola für ihn und Estella das Gleiche ausgedacht hat wie mit dir und mir." Klar, das war logisch. Aber ich wollte mich auf keinen Fall von Alex trennen, nicht jetzt, wo ich ihn gerade erst wieder gefunden hatte. Aber gleichzeitig war mir klar, dass er mir bei meiner Mission in seinem Zustand wahrscheinlich nur ein Klotz am Bein sein würde. Und es war schlauer, uns nicht beide in Gefahr zu begeben, falls einer scheitern sollte.

„Nein, ich will nicht... na gut." Natürlich war ich diesem Hundeblick erlegen. Oder es lag einfach nur daran, dass ich alles für ihn tun würde. „Aber wir treffen uns wieder hier, falls was schief gehen sollte."

„Natürlich, Plan B sozusagen." Plan B waren wir beide, gemeinsame Power.

„Dann... los?" Keiner von uns beiden rührte sich auch nur einen Millimeter von der Stelle. Ich hatte Angst davor, in diese Welt aus Grausamkeit und Tod zurückzukehren und Alex war wahrscheinlich einfach nur allgemein verwirrt.

„Das ist mir ziemlich egal ob das der richtige Zeitpunkt ist aber... ich liebe dich", rückte er plötzlich heraus. Mein Herz schlug schneller. Ziemlich große Worte. „Das ist mir klargeworden und ich habe in der Zeit hier keinen Grund gesehen, das alles noch weiter zu ertragen. Außer dich." Ich biss auf meine Unterlippe, um ein Awwww zu unterdrücken. Wie bei einem kleinen Hund. „Und natürlich der Hass auf meine Tante und die Aussicht, mich an ihr zu rächen", ergänzte er.

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