In diesem Hörsaal kam ich mir so unglaublich klein vor - ganz unbedeutend zwischen den ganzen Menschen. Jeder Platz war belegt, einige mussten in der hintersten Reihen sogar stehen.
Seit dem Treffen mit Hunther war mittlerweile eine ganze Woche vergangen. In dieser Zeit war ich gänzlich bei den Jungs eingezogen, hatte mir einige Bücher für die Uni besorgt und war allgemein nur wenige Stunden außerhalb meines Zimmers anzutreffen. Insgesamt war ich in mich zurückgezogen und hatte die Zeit mit mir alleine genossen. Dieses Verhalten musste ich allerdings heute Morgen ablegen. Freunde finden stand zwar auf meiner Prioritätenliste nicht ganz oben, das ganze Semester wollte ich aber auch nicht alleine rumhängen. Mein Unterbewusstsein hatte mir jedoch mitteilen wollen, dass es noch nicht bereit war, meine heile Welt zu verlassen - denn mein Outfit bestand ausschließlich aus schwarzen Kleidungsstücken.
Mittlerweile war es wesentlich ruhiger im Saal geworden und eine Person - wahrscheinlich der Professor - trat zum Pult. Als ich den Mann genauer betrachtete, stach mir der angewinkelte Arm, so als wäre er verletzt, ins Auge. Unbewusst musste ich die Augenbrauen zusammengezogen haben, denn das Mädchen neben mir sprach mich an: "Du erkennst ihn auch, oder? Gut dass ich nicht die Einzige bin, die sofort erkannt hat, dass es Lucien ist. So fühl ich mich nicht ganz, als wäre ich ein dämlicher Groupie!" Nach einem verwirrten Blick meinerseits, rutschte ihr das Grinsen allerdings wieder vom Gesicht. "Oh nein. Du erkennst ihn gar nicht, stimmts? Wahrscheinlich hast du keine Ahnung von wem ich spreche. Ich dachte nur weil du so geschaut hast...", plapperte meine Sitznachbarin auch schon weiter und ich beschloss sie aufzuklären. "Nein du hast Recht. Ich hab keine Ahnung wer dieser Lucien sein soll. Ich hab nur seinen verletzten Arm gesehen und war überrascht, denn mein Mitbewohner hat sich genau an demselben Arm verletzt", sagte ich ihr zugewandt und lächelte freundlich. Ihre bereits roten Wangen nahmen an Intensität zu und sie konnte mir kaum in die Augen schauen als sie sagte: "Oh. Das ist mir ja so peinlich. Ich wollte damit nicht...also ich steh nicht auf Lucien oder so...das heißt nicht, dass ich...ähm." Verlegen schaut sie wieder stur geradeaus und ich musste darüber schmunzeln. "Ist nicht schlimm, du brauchst mir das nicht zu erklären", sagte ich freundlich - ja heute war eindeutig der Tag der falschen Freundlichkeit - und lächelte sie aufmunternd an. Als sie darauf zögernd zurück lächelte, hatte sich die Röte ihrer Wangen schon wieder verflüchtigt. "Ich bin Jamie", sagte sie und gab mir die Hand. "Ich heiße Kate" erwiderte ich darauf und ignorierte ihre Hand. Hautkontakt mit Fremden war ehrlich gesagt nicht so mein Ding. Jamie setzte gerade zum Reden an, als eine, durchs Mikrofon verstärkte Stimme, ihr das Wort abschnitt. "Liebe Erst-Semester, herzlich willkommen! Ich bin Lucien und gehöre zum AsTa-Haus - eine der bekanntesten Studentenverbindungen hier. Diese erste Woche haben wir für Euch geplant und das heißt im Klartext: Lasst eure Bücher zu Hause, diese Woche wird Spaß!" Während der Sprecher eine kurze Redepause einlegte, versuchte ich leicht schockiert, tiefer auf dem Stuhl zu sinken.
Den Menschen am Pult - und somit am Mikrophon, kannte ich sehr wohl. Das war doch tatsächlich Mr. Arrogant persönlich, oder wie ich gerade erfahren hatte: Lucien. „Zuerst werden wir euch den Campus zeigen und euch über einige interessante Angebote informieren. Morgen machen wir eine Stadtrallye - bei der es auch was zu gewinnen gibt. Am Mittwoch besprechen wir mit euch die nächsten paar Tage und am Donnerstag geht es auch schon los nach Edinburgh!" Allgemeine Stimmen wurden laut und auch ich blickte überrascht zu Jamie. Von einer Studentenfahrt nach Edinburgh hatte ich noch nie was gehört. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt worden war, sprach Lucien weiter. „Ich weiß, dass kommt ziemlich überraschend. Doch wir haben einen Zuschuss vom Stadtrat erhalten und können somit diese Reise mit allen Sprach -Erstsemestern machen. Die anderen unter euch, haben ein differenziertes Programm. Um die Kosten braucht ihr euch also nicht zu sorgen, da das die Stadt übernimmt. Dies ist auch keine Pflichtveranstaltung sondern ein Angebot von uns für euch. Es dient dazu, euch gegenseitig besser kennen zu lernen, um das Studium gemeinsam zu meistern...." Gefühlte Stunden später hatte er seine Rede beendet. Ich lag mittlerweile mehr auf dem Stuhl als dass ich saß und versuchte nun umständlich aufzustehen. Jamie wartete geduldig und gemeinsam schlängelten wir uns zum Ausgang. "Unglaublich oder? Da fahre ich auf jeden Fall mit! Ich will unbedingt Leute kennen lernen. Ich bin neu hier und kenne noch nicht wirklich jemanden - außer Heriette die Postfrau. Sie ist zwar nett, aber dann doch irgendwie nicht in meinem Alter. Hast du auch gesehen, wie Lucien einmal in unsere Richtung geschaut hat? Er ist ja soooooo..." Mit fluchtartiger Geschwindigkeit sprintete ich durch die Tür und schnitt Jamie, die nicht hinterher kam, damit das Wort ab. Ich konnte Menschen nicht ausstehen, die ununterbrochen quatschten. Da wollte ich ihr keine Hoffnung machen, dass wir Freunde werden konnten. Nun alleine, ging ich zu dem genannten Treffpunkt und fand bereits eine große Traube an Menschen vor. Musternd ließ ich meinen Blick über die Gesichter schweifen: Streber (Übereifriger Gesichtsausdruck), Sportler (Eindeutig), Mathegenies (gerade Schnitte, Kontur der Fingerknöchel), Cheerleader-Fraktion (zu viel Schminke, Körperhaltung), Mauerblümchen (Schreckhaft, Schüchtern), ? , Einzelgänger (zurückgezogen, passiv), Anwaltstochter (Pradatasche, Daddy am Telefon), Raucher (offensichtlich, Geruch). Mir fielen schon seit Jahren unbewusst Details an Menschen auf, die normal nicht jedem auffallen würden. Es war kein direktes Schubladendenken, sondern eher ein wissentliches einordnen von Details. Als ich nach einem kurzen Moment mit meiner automatischen Ordnung fertig war, kehrte mein Blick zu dem Fragezeichen zurück.
Ein Mädchen stand abseits der Menge, gehörte allerdings eindeutig zu ihr, verhielt sich passiv-ablehnend, aber ich konnte sie trotzdem nicht ins Fach "Einzelgänger" schieben. Ihre grauen Haare waren auffällig schön, doch niemand schien sie wirklich wahrzunehmen. Kurzerhand beschloss ich mich zur ihr zu stellen. Sie bemerkte mich bereits als ich noch Meter entfernt war. Ihr Blick war kalt - fast böse und sie musterte mich. Doch das verjagte mich keineswegs, sondern machte mich neugierig. Eine Minute später stand ich auch schon bei ihr, die Musterung hatte sie längst beendet. Schweigend blieb ich neben ihr stehen. Den Rest des Tages brachten wir genauso hinter uns. Während der Campus-Tour gingen wir nebeneinander, unterhielten uns nicht. Falls ich mal zu weit zurück blieb, wartete sie und wir folgten den anderen wieder. Bevor dann schlussendlich jeder seinen Weg ging, warf sie mir noch einen skeptischen Blick zu. Dieses Mädchen war interessant, beschloss ich.
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A lovely Nightmare
ChickLitSeit knapp vier Jahren besteht Ava's Leben aus Konzerten, Groupies und ihrer Musik. Doch als sie sich der Schattenseite dieses Lebens nicht mehr entziehen kann, verlässt sie die Band. In London versucht die mittlerweile 21 Jährige ein normales Lebe...