"Ich werde vielleicht sterben."
In einem außergewöhnlichen Cafe Namens "Sketch" in der Londoner Innenstadt, zog plötzlich mein ganzes Leben an mir vorbei. Mit vor Schock geweiteten Augen, blinzelte ich viel zu schnell und mein Atem ging stock weise. Neven legte eine Hand auf meinen Arm und zog besorgt seine Augenbrauen zusammen. Ich brachte kein Wort über meine Lippen und starrte auf seine Hand, die sich viel zu warm auf meiner eiskalten Haut anfühlte. "Nicht sofort Ava. Die Ärzte haben gesagt, dass es eine kleine Chance gibt, dass mein Körper das Heilmittel annimmt", redete Neven sanft auf mich ein. Während alles in meinem inneren schrie, schien er die Ruhe selbst zu sein. Dabei hatte er mir gerade erzählt, dass er eine 23%ige Chance hatte zu überleben. Zu LEBEN. Hektisch schnappte ich nach Luft und starrte weiterhin auf seine Hand. "Ava beruhig dich", sagte er bestimmend und zwang mich mit der Hand am Kinn, ihn anzusehen. Die Panik, die sich in meinem inneren ausgebreitete hatte, konnte man mittlerweile in meinem Gesicht ablesen. Während mein Atem sich einfach nicht beruhigen wollte, schossen mir Tränen in die Augen. Zwischen hektischem nach Luft schnappen, murmelte ich leise: "Du darfst mich nicht verlassen..." und versuchte mit aller Kraft, nicht vollkommen in Tränen auszubrechen. Neven streichelte meinen Arm und erwiderte aufgewühlt: "Das werde ich nicht, dass hab ich dir doch versprochen." Ein aufmunterndes Lächeln umspielte seine Lippen und als ich ihn so betrachtete beruhigte sich meine Atmung ein wenig. Er hatte es mir versprochen, er würde es halten. Ich würde für ihn da sein und er würde leben. Ich nahm seine Hand und verschränkte unsere Hände miteinander. "Wir schaffen das", sagte ich leise und schaute in seine dunkelblauen Augen. Seine Hand fuhr an meine Wange und fing eine Träne auf, die sich ungewollt aus meinem Auge gestohlen hatte. Er nickte unmerklich, dann ergriff er erneut das Wort: "Ich muss ab nächster Woche in eine Klinik in Southampton, dort gibt es eine Studie, die die Chance auf Heilung erhöhen kann. Die Ärzte dort haben sich auf Lymphome spezialisiert." Ich drückte seine Hand und schluckte alles hinunter, was ihn nur noch mehr belasten würde. "Ich werde mitkommen", sagte ich und lächelte ihn an. Wir würden das gemeinsam schaffen. Nev zog seinen Augenbrauen erneut zusammen. "Das kannst du nicht. Dein Studium hat gerade erst angefangen, du würdest zu viel verpassen", sagte er skeptisch. Da ich bereits in Gedanken war, brauchte ich einige Momente um zu reagieren. "Du hast keine Wahl Neven Russo! Du hast mich an der Backe ob du willst oder nicht. Ich klär das mit meinen Professoren ab und fahre uns sogar höchstpersönlich nach Southampton", erklärte ich ihm mit einem Ton, der keine Wiederrede zuließ. Als er meinen entschlossenen Blick sah, probierte er gar nicht, es mir auszureden. "So, trinken wir jetzt einen von den unglaublich leckeren Tees hier? Ich hab gelesen, die sollen richtig gut sein", beendete er das Thema und ich stimmte ihm zu.
Eine Stunde später schloss ich erschöpft die Haustür hinter mir. Dieses Gespräch war mir förmlich an die Nieren gegangen. Immer noch musste ich mich anstrengen, nicht einfach in Tränen auszubrechen. Die Planung meiner kommenden Abwesenheit, lenkte mich allerdings ziemlich gut ab. So kam es auch, dass meine vorerst letzte Woche in London wie im Flug verging. Ich sprach mit all meinen Professoren, die mit viel Verständnis reagierten und erhielt von Ihnen die Unterlagen für das komplette erste Semester. Ich rief bei Jay an um ihm zu sagen, dass ich erstmal nicht kommen würde und hatte bereits mit Max gesprochen. Solange ich meine Miete zahlte, würde er mein Zimmer nicht weggeben. Und ich hatte fest vor, dieses Zimmer zu behalten. Das schwierigste Gespräch, nämlich das mit meinen erst neu gewonnen Freunden, lag noch vor mir.
Es war mittlerweile Samstagabend und ich war mit Grey und Co. in einer Bar ganz in der Nähe vom Hyde Park. Meine Freunde lachten gerade über einen schlechten Witz, den Moe gemacht hatte und ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab. Timm, der meine gedrückte Stimmung bemerkte, stupste mich an. "Peach, was ist denn los? Du siehst aus wie drei Tage Regenwetter!", sagte er und zog somit auch die Aufmerksamkeit der anderen auf mich. Ich schluckte, der Zeitpunkt war gekommen. "Ich werde für eine unbestimmte Zeit London verlassen müssen. Ab morgen", während ich das sagte, schaute ich jedem von ihnen abwechselnd ins Gesicht. Während Moe und Timm bestürzt wirkten, starrte Grey mich einfach an. "Ich muss einen Freund nach Southampton begleiten und werde spätestens für die Prüfungen wieder kommen", erklärte ich weiter. Da Grey ihren Blick immer noch nicht von mir löste, starrte ich sie nun ebenfalls an. Gerade als ich etwas in ihren Augen glitzern sah, drehte sie den Kopf abrupt weg. Timm ergriff zuerst das Wort: "Wieso sagst du uns das jetzt erst?" Ich schluckte, ich hasste solche Gespräche. "Weil ich euch lieb gewonnen habe und am meisten Angst vor dem hier hatte", gab ich dann ehrlich zu. Grey wand sich endlich wieder mir zu und sagte bitter: "Wenn du uns doch so lieb hast, warum gehst du dann?" Kurz bogen sich meine Lippen nach oben, bei dieser kindlich klingenden Frage, doch ich antwortete ihr ernst: "Weil ich meinen Freund nicht alleine lassen kann. Er hat eine schwere Zeit vor sich und ich werde ihm helfen." Ein kurzes, bedrücktes Schweigen legte sich über unsere kleine Gruppe. "Wir könnten dich besuchen kommen", sagte Moe vorsichtig und lächelte dabei in die Runde. Timm nickte und auch Grey lächelte kurz. "Das würde mich sehr sehr freuen", sagte ich gerührt. "Gott, ich werde euch vermissen!", brach es aus mir heraus. Grey hob die Hand um den Barkeeper zu uns zu holen und erklärte an uns gewand: "Das wird mir zu schnulzig. Das ertrag ich nicht nüchtern." Ein Lachen entfuhr mir und wir bestellten uns alle ein neues Getränk.
Einige Stunden und Shots später, tanzten wir uns gerade wieder zur Bar, als Luce auf einmal vor uns stand. Seine Augen brannten Löcher in meine und alles um mich herum verschwamm. Seine Kiefer war angespannt, als würde er die Zähne aufeinander beißen. Timm und die anderen gaben mir ein Zeichen, dass sie an die Bar gehen würden. Mehr als ein Nicken brach ich nicht zustande, denn Lucien starrte mich immer noch an. Als wir alleine waren drängte er mich an der Masse vorbei an die Wand. "Du verlässt London morgen!?", es war mehr eine Frage als eine Feststellung, also nickte ich nur kurz. "Wieso hast du es mir nicht gesagt?", fragte er aufgewühlt und fuhr sich mit der Hand durch seine Haare. Von der Geste kurz abgelenkt, antwortete ich ihm erst etwas verzögert: "Ich dachte nicht, dass dich das interessiert." Statt etwas zu erwidern, trat er einen Schritt auf mich zu und wickelte sich eine Strähne meines Haars um den Finger. Meine Augen suchten seine und meine Welt wurde grün. Unmerklich hatte sich mein Atem beschleunigt. "Wir müssen gehen", sagte Lucien aufgewühlt und ergriff meine Hand. Erst ließ ich mich mitziehen, blieb dann jedoch abrupt stehen. Mein "warum" hätte er bei der Lautstärke um uns herum gar nicht hören können, doch er schien zu ahnen, was ich gefragt hatte. Er kam wieder näher und beugte sich zu meinem Ohr. "Weil ich sonst hier Dinge mit dir anstelle, von denen du noch nicht einmal geträumt hast", seine raue Stimme an meinem Ohr und seine Worte verursachten mir Gänsehaut. "Ich verabschiede mich noch von meinen Freunden", sagte ich und entfernte mich von ihm. Während ich mich erst zur Garderobe und dann zur Bar durchkämpfte, beruhigte sich mein Herzschlag nicht.
Timm und Moe umarmten mich herzlich und versprachen mir, mich bald zu besuchen. Grey musste ich zu einer Umarmung erst zwingen, doch dann hielt sie mich so fest, dass ich dachte sie würde mich nicht mehr loslassen. "Vergiss mich nicht", flüsterte sie mir in Ohr und ich drückte sie noch einmal kurz. Zum Schluss gab ich ihr einen Kuss auf die Wange, der sie erst zum Lächeln brachte und den sie dann gespielt angewidert von ihrer Wange wischte. Dann zwinkerte sie mir ein letzte mal zu und ich ging zum Ausgang. Draußen an der Wand lehnte Lucien und starrte in die Nacht hinaus. Mein Herzschlag nahm zu.
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A lovely Nightmare
ChickLitSeit knapp vier Jahren besteht Ava's Leben aus Konzerten, Groupies und ihrer Musik. Doch als sie sich der Schattenseite dieses Lebens nicht mehr entziehen kann, verlässt sie die Band. In London versucht die mittlerweile 21 Jährige ein normales Lebe...