Verloren

8 1 0
                                    

Vielleicht landete ich durch meine Unaufmerksamkeit beim Frühstück in der misslichen Lage, in der ich mich gerade befand. Vor Kälte bibbernd zog ich meine Schultern hoch und verschränkte meine Arme. Ich hätte meine Winterjacke anziehen sollen, als ich vor zwei Stunden mit Max und Mira in den Richmond Park gefahren war. Doch stattdessen stand ich nur mit Pullover & Schal bekleidet mitten in einem viel zu großen Park. Vor einer Weile war mir aufgefallen, dass ich Max und Mira verloren hatte. Wie das passieren konnte, war mir ein Rätsel. Wir wollten spazieren gehen und ich war völlig in Gedanken versunken hinter den beiden hergelaufen. Und als ich dann aus meinem Kopf wieder auftauchte und mich umsah, war ich alleine. Mittlerweile war ich schon eine ganze Weile im Park rum geirrt, doch ich fand weder die beiden, noch den Parkplatz, wo Max das Auto geparkt hatte. Der einzige Lichtblick war die Hauptstraße, die ich links von mir ausmachen konnte. Da ich mein Handy zuhause gelassen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu Fuß zurück zum Bungalow zu laufen.

Da ich die Stadt noch nicht so gut kannte, stellte sich dieser Plan allerdings nach wenigen Kilometern an Straßen und U-Bahn Stationen vorbei, als sinnlos dar. Immer noch zitternd vor Kälte war ich drauf und dran ein paar Passanten nach dem Weg zu fragen, als neben mir plötzlich ein Motorrad hielt. Interessiert schaute ich den ganz in schwarz gekleideten Fahrer an, der nun mit Schwung den Helm abnahm. Jay vom Studio blinzelte mir mit einem lockeren Lächeln entgegen. „Hey, du sahst ein bisschen verloren aus. Brauchst du Hilfe?", sprach er mit tiefer Stimme zu mir. Innerlich jubilierend über meine Rettung, grinste ich ihn an. „Ohja, du musst mir sogar helfen, großer Meister. Ich weiß nicht wo ich bin und weiß nicht wie ich nach Hause kommen soll!", erwiderte ich etwas schnell und spielte mit einem kurzen Wing, auf seine letzte Niederlage im Studio an. „Okey, also erstmal sind wir hier in der Nähe vom Froebel College, welches zur University of Roehampton gehört. Meine Uni um genau zu sein. Und du wohnst wo?", fragte er neugierig und ich musste kurz nachdenken. „Ich wohne in Marylebone... nein warte, meine Uni ist da, ich wohne in ...Mayfair!", antwortete ich ihm etwas durcheinander. Zischend zog ich die Luft durch meine Zähne. Mittlerweile erfror ich fast, die kalte Luft machte es nicht besser. Jay musterte mich besorgt, bevor er erneut das Wort ergriff. „Ich kann dich nach Hause bringen, aber das sind über 30 Minuten bei eisigem Wind auf einem Motorrad. Ich bring dich erstmal zu mir, dann kannst du dich kurz aufwärmen und ich leih dir eine Jacke für die Fahrt. Wie klingt das?" Ich wollte zwar eigentlich erwidern, dass es nicht nötig war, doch meine Unterlippe zitterte zu stark. Also nickte ich einfach nur. Ohne ein Wort gab er mir seinen Helm und setzte sich wieder aufs Motorrad. Nervös ging ich auf ihn zu und kletterte hinter ihm auf die Maschine. Ich war erst einmal mit einem ähnlichen Motorrad gefahren, dabei wäre sie beim Halt an einer Ampel fast auf mich gefallen, so schwer war sie. Seitdem fuhr ich doch lieber Auto. Aber ich traute Jay durchaus zu, das Monster unter ihm zu halten, also entspannte ich mich nach der zweiten Ampel wieder. Soweit man es entspannen nennen konnte, denn obwohl wir nach zwei Blocks anhielten und Jay den Motor ausschaltete, bibberte ich erbärmlich. Keine Minute länger hätte ich den wirklich sehr eisigen Fahrtwind ausgehalten. Jay löste meine verkrampften Finger von seinem Bauch und half mir herunter. Mit schnellen Handgriffen hatte er seine Maschine abgeschlossen und mit dem Helm am Handgelenk baumelnd lief er vor mir zu einem kleinen Wohnhaus. Als er dann die große Eingangstür, die mit vielen Verschnörkelungen verziert war, aufschloss und uns wohlige Wärme empfing, seufzte ich laut. Jay lächelte mich aufmunternd an und ging weiter voraus in die zweite Etage. Die Tür vor der wir stehen blieben, war schwarz gestrichen und entlockte mir ein Lächeln. Ich war nicht mehr ganz überrascht, in einen dunkelgrauen Flur zu treten, von dem mehrere Türen abgingen. Jay schloss die Tür hinter uns. Mit etwas müden Armen wickelte ich mir den Schal ab und hing ihn zu seiner Motorradjacke an die Garderobe. Ich kickte meine Sneaker so gut es mit eingefrorenen Zehen ging, von meinen Füßen. „Tee oder Kaffee?", fragte mich Jay, während er sich eine der Türen näherte. „Kaffee, bitte", sagte ich und rieb mir über meine Arme. Es würde wohl eine Weile dauern, bis mein Körper sich aufgewärmt hatte. Da ich nicht alleine im Flur stehen bleiben wollte, tapste ich Jay hinterher und blieb im Türrahmen der Küche stehen. Der Stil des Flurs spiegelte sich auch in diesem Raum wieder. Die Wände schienen durch die dunklen Möbel zu strahlen und die Retro-Lampe die von der Decke hing, schaffte eine tolle Atmosphäre. Jay stand an einem Kaffeevollautomaten und drückte gerade auf dem High-Tech-Touchpad herum. „Also, ich kann dir Latte, Cappuccino, Espresso und eigentlich alles andere anbieten...", sagte er und schaute mich dabei über seine Schulter an. „Einen Latte, mittel stark und ohne Zucker, nehme ich gerne", erwiderte ich und beobachte, wie er daraufhin mehrmals auf das Touchpad tippte, bevor er zwei Gläser darunter stellte. Während die Maschine brummend zum Leben erwachte, drehte Jay sich zu mir um und lehnte sich an die Theke hinter sich. „Wie kommt es, dass du dich verlaufen hast?", fragte er neugierig und ich erzählte ihm in knappen Sätzen von meinem Abenteuer. „Willst du mit meinem Handy jemanden Bescheid sagen, dass es dir gut geht?", fragte er nach einer Weile. Kurz schüttelte ich meinen Kopf. „Ich kenne keine Handynummer auswendig", erklärte ich ihm. Kommentarlos nahm er unsere Gläser und reichte mir im Vorbeigehen eins. Ich schloss meine kalten Finger um das warme Glas und genoss kurz den wohligen Schauer, der meine Arme hinauf zu spüren war. Dann folgte ich ihm durch die gegenüberliegende Tür. Ein großer, viereckiger Raum lag vor mir. Er glich einem Atelier, mit bodenlangen Fenstern und wenig Möbeln. An jeder freien Wand standen Staffeleien, Bilderrahmen oder Leinwände. Neben der Tür, in der ich immer noch stand, befand sich ein großes, dunkles Ledersofa. Auf dem Tisch, der davor stand, standen zwei leere Weingläser. Ansonsten war der Raum leer. „Ich würde mich ja für die Unordnung entschuldigen, aber eigentlich sieht es hier immer so aus", sagte Jay, der mich von der Mitte des Raumes beobachtete. Ich hob meine Schultern, da ich den Raum eher als gemütlich empfand, statt unaufgeräumt und bewegte mich zum Sofa. Mit ein wenig Vorsicht, damit der Kaffee nicht überschwappte, setzte ich mich in Schneidersitz in die Ecke. „Hier steh ich nie wieder auf!", sagte ich genüsslich, während ich mich tiefer sinken ließ. Schmunzelnd kam Jay näher und setzte sich dann an das andere Ende der Couch. "Sie stand schon in der Wohnung, als ich eingezogen bin. Ich weiß nicht wie man so ein tolles Möbelstück zurücklassen kann", erzählte er und strich leicht über die Armlehne. Als ich nichts erwiderte, ergriff er erneut das Wort: "Erzähl mir etwas über dich. Außer, dass du wirklich gut in Kampfsport bist, weiß ich nichts über dich." Vielleicht war es auch gut, dass er nicht so viel über mich wusste.  „Das wissen nicht viele, also dass ich gut im Kämpfen bin. Somit weißt du schon mehr als fast alle, die ich kenne", erklärte ich und lächelte in mein Glas.

A lovely NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt