Am nächsten Morgen fiel mir der Weg zur Uni schwer. Der Taum, der mich bis in die frühen Morgenstunden begleitet hatte, steckte mir immer noch in den Knochen. Als ich endlich aufwachte, hatten meine Augen getränt und mit schweren Herzen hatte ich mir vorgenommen, meine Mom demnächst endlich mal anzurufen. Mit langsamen Schritten kam ich dem Unigelände immer näher. Viele Studenten mit Kaffeebechern oder Büchern unter dem Arm liefen von einem zum anderen Gebäude. Leider viel mir zu spät ein, dass ich nicht wusste, in welches der unzähligen Bauten ich überhaupt musste. Mit meinem Glück sah ich auch niemanden, der mir hätte weiterhelfen können und so seufzte ich schwer, als ich mir einen Weg zum Sekretariat suchte.
Zehn Minuten nach Vorlesungsbeginn, stand ich vor meinem Hörsaal. Mir hallte schon im Flur die Stimme eines Professors entgegen. Nach einem tiefen Atemzug, zog ich die Tür auf und betrat den großen Saal. Mindestens 50 Augenpaare richteten sich auf mich, als die Tür hinter mir ganz langsam und quietschend ins Schloss fiel. Ohne einen einzigen Menschen in diesem Saal anzuschauen, nahm ich an dem äußersten Stuhl in der zweiten Reihe platzt. Als der Professor immer noch stumm blieb, schaute ich hoch. Blaue Augen funkelten mich an und ich erstarrte kurz. Ohje, das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein. Ben, der enge Jeans und Hemd trug, stand vor mir und schwieg immer noch. "Entschuldigung", sagte ich schnell, damit er endlich aufhören würde mich anzusehen. Kurz schien er verwirrt, dann wand er sich von mir ab und deutete auf die Wand hinter ihm. "Russische Sprache - Wann entstand sie? Wer kann der verspäteten jungen Frau hier vorne die letzten 10 Minuten zusammenfassen?", fragte er professionell in den Saal hinein. Ausgerechnet Jamie fing an zu sprechen: "Russisch entwickelte sich aus der alt-ost-slawischen Sprache. Im 18. Jahrhundert wurde die russische Literatursprache reformiert. Die russische Rechtschreibung änderte sich 1918 dann jedoch prägnant." Während ich mir stichpunktartig Notizen machte, ergriff Ben oder eher Herr Liky wieder das Wort: "Genau. Russisch wird außerdem mit dem russischem Alphabet geschrieben, dessen Ursprung, dem alt kyrillischem entstammt. Seit 1918 besteht dieses aus 33 Buchstaben, davon dienen 10 der Wiedergabe von Vokalen. Kann mir jemand diese nennen?" Niemand schien dafür bereit zu sein und so schrieb er sie selbst ans Bord. "а, е, ё, и, о, у, ы, э, ю und я" stand dort nun, in außergewöhnlich schöner Schrift. Kurz ließ er uns Zeit abzuschreiben, dann fuhr er fort: "Die übrigen 23 Buchstaben werden zur Wiedergabe von Konsonanten verwendet. Wobei die Buchstaben ъ und ь nicht zur Nachbildung bestimmter, eigenständiger Laute, sondern als Indikatoren für die Härte oder Weichheit vorangehender Konsonanten dienen." Erneut malte er zwei Buchstaben ans Board, die wir uns fleißig notierten. Während Ben weiter sprach, schaute ich mir zum ersten Mal meine Mitstudenten an. Erstaunlich viele junge Frauen saßen in den Reihen neben, vor und hinter mir. Wenige männliche Exemplare hatten sich dazwischen, die meisten jedoch in den oberen Rängen versammelt. Als ich meine Konzentration wieder nach vorne richtete, hatte Ben seinen Vortrag beendet. Erstaunt, wie schnell eineinhalb Stunden umgehen konnten, stand ich wie der Rest des Saals auf. Bevor ich den Raum verließ, schaute ich nochmal zu Ben. Doch der stand bereits von drei Frauen umringt am Pult, was mich animierte, meine Augenbraue missbilligend hochzuziehen. Natürlich hatten diese Damen nur fachliche Fragen, dachte ich belustigt, als ich den Flur entlang ging. Ich hatte keine Eile, denn vor mir lagen zwei Stunden Pause, bevor ich am Nachmittag noch zwei Kurse haben würde. Ich kramte gerade in meiner Tasche nach den Kopfhörern, als wie aus dem Nichts Shelly vor mir stand. "Ich habe gehört, du hast Lucien meine Botschaft mitgeteilt. Braves Mädchen", traute sie sich doch tatsächlich zu sagen. Die plötzliche Wut, die mich erfasste, brachte mein Blut in Wallung und färbte meine Wangen rot. "Pass auf, Miststück. Ich weiß nicht wer dich erzogen hat oder was dein Problem ist, aber Anstand scheinst du nicht zu haben. Wie kannst du ihm nur so angreifen? Über mich! Wie eifersüchtig kann man denn sein?", völlig aufgebracht, flossen die Worte nur so aus meinem Mund. Shellys Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse, bevor sie mir ihre Antwort zu zischte: "Eifersüchtig? Sag mal, leidest du unter Wahnvorstellungen? Auf was soll ich denn eifersüchtig sein? Auf dich? Oder auf die nicht vorhandene Beziehung mit Lucien? Noch besser auf den nicht vorhandenen Sex mit ihm? Du spinnst doch!" Ein kleines Messer hatte sich bei ihren Worten irgendwo in meiner Brust angefangen zu drehen und kurz verwirrt, blieb ich stumm, während Shelly sich abwandte. "Warte", rief ich schnell und sie drehte sich um. "Warum dann? Was veranlasst dich, so grausam zu einem Menschen zu sein?", fragte ich mehr als Neugierig. Shelly versteifte ihre Schultern und schaute mir dann ins Gesicht. "Ach, dass hat Lucien dir also nicht erzählt. Nur von der eifersüchtigen Shelly, die gemein zu ihm ist, typisch", erwiderte sie abfällig. Diesmal hielt ich sie nicht vom Gehen ab, denn offensichtlich würde SIE mir nichts mehr verraten. Mit schwirrendem Kopf, bahnte ich mir einen Weg zum Campus eigenen Coffeeshop, den ich heute morgen entdeckt hatte. Shelly war also nicht eifersüchtig, darauf hätte ich eigentlich selbst kommen können. Ich hatte nichts mit Lucien und nach mehreren kleinen Abfuhren seinerseits, war an unserer zwischenmenschlichen Beziehung nichts beneidenswert. Doch wieso verhielt sie sich denn so gemein ihm gegenüber? Was war vorgefallen zwischen ihr und Lucien? Und wer um alles in der Welt war diese mysteriöse Rachel? Ein kalter Schwall Etwas zog mich in die Gegenwart zurück. Schockiert schaute ich auf den großen, orangen Fleck, der sich von meiner linken Schulter abwärts in mein weißes Shirt zog. "Shit, das wollte ich nicht", hörte ich eine männliche Stimme sagen. Immer noch entrüstet über mein ruiniertes Shirt, schaute ich den Typ böse an. Der schlaksige, etwas ängstlich wirkende Mann zuckte unter meinem Blick kurz zusammen. "Das war echt keine Absicht!", sagte er erneut. "Trotzdem Scheiße", erwiderte ich ungehalten. "Hier, ich bezahl dir dein Getränk", sagte er daraufhin und reichte mir 5£. Kaum hatte ich das Geld entgegen genommen, lief er auch schon aus der Tür. Etwas besänftigt, ging ich zur Theke um mir etwas zu bestellen. "Hallo schöne Frau, was darf es sein?", fragte mich der junge Mann hinter der Theke. Seine blonden, kurzen Haare und seine blass blauen Augen erinnerten mich an Landon. "Was kannst du empfehlen?", fragte ich unentschlossen, da ich noch keine Zeit hatte, die Karte zu studieren. "Strawberry-Cheescake Tee", sagte er fröhlich und mir fiel zum ersten Mal auf, dass ich ihn sogar in meinen flachen Sneakern um einen ganzen Kopf überragte. "Nehme ich", erwiderte ich und gab ihm die 5£. "Gute Wahl", kommentierte er mit einem Augenzwinkern und gab mir das Wechselgeld zurück.
Augenblicke später saß ich mit meiner heißen Tasse Tee am Fenster des Coffee-Shops und starrte auf mein Handy. Es war Zeit, endlich meine Mutter anzurufen.
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A lovely Nightmare
ChickLitSeit knapp vier Jahren besteht Ava's Leben aus Konzerten, Groupies und ihrer Musik. Doch als sie sich der Schattenseite dieses Lebens nicht mehr entziehen kann, verlässt sie die Band. In London versucht die mittlerweile 21 Jährige ein normales Lebe...