Jahr 30 nach der Ruhe
Ein junger Mann saß mit überkreuzten Beinen auf dem Boden. Der Stein war hart und kalt, doch diese Höhle hatte den Vorteil, dass er Alles außerhalb beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Doch selbst wenn diese Höhle ein geeigneter Platz dafür war, lag es bis zu einem bestimmten Grad an ihm. Er hatte schon immer ein Talent in dieser Hinsicht gehabt und in seiner Kindheit hatte er es gerne seine Fähigkeit genannt. Die anderen Kinder hatten ihn beneidet. Zum einen Teil. Der andere hatte ihn mit Argwohn, Furcht, ja, mit Hass versehen. Und das nur weil er anders war. Der Blick des Mannes trübte sich. Längst vergessene Erinnerungen wirbelten durch seinen Kopf und füllten die Leere, die sich seit der Zeit der Ruhe in seinem Kopf häuslich eingerichtet hatte. Bilder schwebten vor seinen Augen, verbanden sich mit denen der Realität –wenn es so etwas überhaupt noch gibt- und dann war es, als würde sein Kopf zerfetzt werden.
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Die Schmerzen hielten nicht lang an. Nach ihrem Abklingen lockerte ich meine zusammengepressten Lider und öffnete meine Augen. Meine Kleidung war klitschnass und ich saß nicht mehr in der Höhle. Ich hörte damit auf, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich keuchte und stützte mich mit den Armen auf die Knie. Mein Puls raste, wie nach einem schnellen Sprint und ein Gedanke, der gleichzeitig mir und nicht mir zu gehören schien waberte nebelartig durch meinen Verstand. Wo ist Jealous? Ich wischte die nassen Strähnen zur Seite und nutzte die wiedergewonnene Sicht zur Orientation. Es war tiefe Nacht und an der Entfernung des Vollmondes erkannte ich, dass es noch Anfang Alùr war und es deshalb auch in der Nacht noch sehr warm blieb. Ich wurde immer verwirrter; es war kein bisschen warm, aber mein ganzer Körper sagte mir, dass ich vor Hitze mindestens schwitzen müsse und den Gedanken dieses Körpers, der anders als seine Erinnerungen zu mir gehörte konnte ich entnehmen, dass ich in Gefahr war. Reflexartig drehte ich mich um. Zwei Männer –Verfolger- kamen auf mich zu gerannt und stachen mit ihrer weißen Uniformen nonchalant von dem sternenklaren Himmel und den Felswänden zu ihren Seiten ab. Je auf ihrem Haupt prangte ein goldenes Symbol, eine Art Kreis mit ausgefransten Rändern. Der Größere der Beiden trug dazu noch einen goldenen Reif um seinem Handgelenk, der ein schwaches Glühen verbreitete. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was mir hier wiederfuhr, aber dadurch, dass ich mich an dieses Erlebnis nicht mehr erinnerte, konnte ich die Möglichkeiten rasch eingrenzen. Dies hier musste sich vor meinem Gedächtnisverlust zugetragen haben, also musste ich mich in oder vor der Zeit der Ruhe befinden (letzteres kommt mir eher unwahrscheinlich vor). Die beiden Verfolger kamen näher und tropften dabei um die Wette, während ich dastand und nicht wusste, was zu tun war, bis sich mein Körper ohne meinem Befehl in Bewegung setzte und mich in der Schlucht zwischen den beiden Felsformationen stehen ließ. Entsetz schaute ich meinem Körper hinterher und danach an mir hinunter. Ich war nun nicht mehr in meinem Körper, sondern hing geisterhaft in der Luft. Einatmen, ausatmen und losrennen war eins, während ich die Verfolgung meine ehemaligen Körpers aufnahm. Je weiter ich mich ihm näherte, desto lauter hörte ich seine/meine Gedanken. ...nicht fangen lassen. Darf mich nicht fangen lassen. Darf mich nicht fangen lassen! Ich schaffte es nicht hundertprozentig, im Gleichschritt mit ihm/mir zu laufen und es behinderte mich, ständig seinen/meinen Kopf und vor allem seine/meine Arme zu sehen, weshalb ich lieber neben ihm lief. Diese ganze Situation, war so obszön, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Und obwohl diese Person ich war, kam es mir nicht richtig vor, seine Gedanken belauschen zu können. Eine Frage allerdings war besonders erschreckend, nämlich, ob mein früheres ich auch all das gesehen (und gehört) hatte, was ich nun mitbekam, als ich noch in dieser Lage gewesen war. Und ich fühlte mich, als wäre das Ganze etwas Unerlaubtes. Wir beide rannten weiter, die Uniformierten unbeirrt in der Verfolgung, da wurde er/ich auf etwas aufmerksam. Ich hatte mich bemüht, seine/meine Gedanken bei ihm/mir zu belassen, aber dies konnte ich nicht überhören: Dort! Jealous! Was ist mit ihm passiert? Ein anderer Mann, so wie ich (aber nicht so wie mein früheres Ich) bereits adult, lag abseits des Weges im Dreck, an der Stirn verwundet. Um ihn herum lagen mehrere Krieger in golden schimmernden Rüstungen tot und schmerzhaft verdreht, doch um sie kümmerte sich dieses Abbild von mir gar nicht erst, stattdessen hockte er sich über den mit der Stirnwunde. Mir kam eine Idee, etwas, dass ich noch nicht ausprobiert hatte. Ich sprach: „Wer ist das?" Er/ich ignorierte mich, oder hatte meine Stimme gar nicht vernommen, doch seine Gedanken kamen schicksalshaft gelegen. Was haben sie dir angetan, Bruder? Mein Unterkiefer klappte nach unten. Ich habe einen Bruder. Ich konnte nichts tun, außer weiter den stillen Beobachter zu spielen, doch auch wenn ich etwas hätte unternehmen können, diese Erinnerung, diese Vision überflutete mich mit vergessenen Informationen und Eindrücken. Er/ich betastete kundig den Schnitt. Er war nicht besonders groß und auch nicht tief, doch das Blut rann über sein Gesicht, floss seine Schläfen hinab und mischte sich mit dem Matsch des aufgeweichten Bodens. „Jealous!", rief er/ich und in seiner Stimme hörte ich das gleiche Gefühl der Machtlosigkeit, das auch ich verspürte. „Jealous, was ist nur los?" Tränen quollen aus unseren beiden Augenpaaren und ich lauschte wieder seinen/meinen Gedanken. Zwei Tage waren er/ich bereits auf der Flucht vor der army of light. Miese Polenten, schimpfte er/ich, als der Ruf eines der Verfolger ertönte: „Dort vorne ist er!" Gehetzt sah er/ich sich um und auch ich (also ich/ich) blickte in die Richtung. Danach ging alles sehr schnell. Mein ehemaliges Ich zog Jealous an sich/mich und schleifte ihn in Richtung einer kleinen Felsspalte. Ächzend hievte er/ich den älteren und auch größeren Bruder hinein und kauerte sich/mich neben ihn. Der Donner krachte und kurze Zeit später zuckte ein Blitz durch die eisige Nacht (mein alter Körper konnte mir so oft sagen, dass es heiß wäre, wie er wollte). Ich hörte das tappen näherkommender Schritte. Sie sind da, tönte es nur für mich hörbar aus der engen Höhle, die eher schlecht als recht für zwei Personen ausreichte, zumal der eine verletzt und ohnmächtig war. Erneut traf ein Blitz auf die Erde und nun konnte ich die Uniformen wieder in der Dunkelheit erkennen. Ich nahm wieder die Position ein, von der ich alles durch die Augen meines alten Ichs sehen konnte. Die Verfolger waren noch näher und wir konnte sie reden hören, was sehr unangenehm war, da ich sie mit meinen und mit seinen/meinen Ohren hörte. Zum dritten Mal schoss ein Blitz in unserer Nähe aus dem Himmel. „Das muss dieser Bursche sein", kommentierte der mit dem Goldreif. „Was meinst du?", das war der andere„Er hat doch diese Kraft." Ich musste erst überlegen, bevor ich es verstand, doch als ich die Genugtuung verspürte, die ihn/mich durchfuhr, musste auch ich schmunzeln. Sie hatten mich wegen meiner Kräfte gejagt. Und sie hatten mich gefürchtet, so wie sie jetzt ihn/mich fürchteten. Noch immer verwirrte mich diese ganze Sache, wer nun welche Persönlichkeit hatte. „Und du glaubst, er könne Gewitter beschwören?", fragte der andere wieder. Der Schlag des Reifträgers hallte durch die Schlucht und ich hörte den anderen, der scheinbar den Untergebene des Reifträgers war, aufstöhnen. Wieder hörte man platschen des Regens und die sich nähernden Schritte. Ich folgte seinem/meinem Umdrehen.
*****
Doch dort war niemand. Ein Ruf ertönte und der junge Mann drückte sich weiter in die Ecke. Sein Bruder war verschwunden und das Unwetter hatte aufgehört. Wieder dieser Ruf: „Hallo? Ich weiß, dass du hier steckst." Diese Stimme gehörte zu keinem der Verfolger und auch deren Schritte waren nicht mehr zu vernehmen. Der Mann schaute sich um und bewegte sich behände durch die Höhle, denn das war sie, nicht mehr die kleine Felsspalte, sondern eine richtige geräumige Höhle. Und diese Stimme – ein Kopf zeigte sich am Eingang. „Hi", eine Hand gesellte sich dazu und machte eine grüßende Bewegung. Es dauerte einen Moment, dann wurde es ihm klar. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen an seinen bewusstlosen Bruder los zu werden, dann setzte er eine gemäßigte Miene auf und trat nach vorn. „Ich kann dich seh-", sein Ausruf wurde von einem Laut des Erschreckens verschluckt. Der junge Mann lächelte, denn er wusste, dass Twinkle ihn nicht gesehen hatte, während er vollends aus dem Schatten trat. Seine Gefühle waren nun sicher verpackt hinter einer Wand aus Schatten, sodass niemand sie sehen konnte. In seiner momentanen Situation durfte er keine Schwäche zeigen. Er zwinkerte Twinkle zu und dieser zog eine Grimasse und sagte gespielt verärgert: „Zu komisch." Dann wurde er wieder ernst. „Wir haben Besuch und unser Anführer", er streckte das Wort, als ob es vier wären: „bietet ihnen eine Audienz." Der junge Mann konnte sich nur zu gut vorstellen, was das bedeutete. „Unser Anführer also.", sagte er und Twinkle zischte spöttisch.
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In der Mitte des Plateaus war ein stattliches Feuer entfacht worden und Mill posierte aus einem daher liegenden Felsen. Ohne ihn wäre er kleiner als der Besuch gewesen, was Twinkle und der andere mit einem weiteren Schmunzeln bedachten. Den Besuch bildeten ein Mann und eine Frau. Er war muskulös, trug Tarnfarben und erinnerte zusammen mit seinem Haarschnitt an einen Soldaten, hatte aber ein sympathisches Lächeln auf den Lippen. Sie hingegen hatte langes orangenes Haar und starrte Mill trotzig an, während der Soldat scheinbar versuchte, die Lage zu beruhigen. Trotz der Unterschiede meinte Twinkle zu erkennen, dass es sich bei ihnen um Geschwister handelte. Doch während Twinkle und der Tote sich der Versammlung näherten sah er noch etwas: die Bluse, die die Frau trug, und die aus roten Stoff zu bestehen schien, war blutrot und zusammen mit der Wunde an ihrem Hals, konnte er sich denken, wer das war. Den Namen hatte er sich nicht behalten können, aber dies musste die Frau aus der Geschichte sein, die Mill ihm erzählt hatte.
„Und da kommen auch schon mein erster Rat und der", Mill machte eine Geste, als würde er das Wort aus der Luft ziehen: „der, Gärtner", endete er triumphierend über seine intelligenten Worte. Twinkle schmunzelte über diese Ironie, hatte er nicht Mill am Tage seines Erwachens noch als einen Hobbygärtner geschimpft? Wenigstens werde ich dafür bezahlt. Die Frau (ihr Name war irgendetwas mit E) gähnte provokativ und ließ sich übertrieben kraftlos auf einen der abgestorbenen Baumstümpfe nieder, die überall ihre Dreckigen Häupter in die Höhe streckten. Der Soldat kam auf Twinkle und das Schattenauge zu, womit auch er Mill die gewünschte Ehrerbietung verwehrte. „Hey", sagte er salopp: „Ich bin-" „Stone", wurde sein Satz beendet und das Schattenauge ging an ihm vorbei auf Mill zu. Ja, Schattenauge war wirklich sein Favorit unter den Namen für ihn. Stone hob eine buschige Augenbraue und Twinkle lächelte: „Mill hat du ja bereits kennengelernt und ich bin scheinbar der Gärtner", sagte er und imitierte Mills Stimme. Die Braue kletterte noch ein Stück auf dem Weg zu seinem Schopf. „Eine merkwürdige Truppe", kommentierte Stone mit festem Lächeln. „Erzählt mir doch mehr über euch, lieber Herr Gärtner." Der angesprochene verdrehte seine Augen. „Ich heiße Twinkle, bin vor zwei Tagen auf diesem Berg erwacht und habe so wie Mill und..., nun ja, wie die Beiden jegliche Erinnerung an mein früheres Leben verloren." „Bei Ember" (stimmt, das war ihr Name) „und mir ist es ganz ähnlich", erklärte Stone, doch etwas an der Art, wie er das sagte, machte Twinkle stutzig. Die Frau, Ember, kam zu ihnen und er hatte seine Bedenken schon wieder vergessen. Sie sagte etwas. Er starrte sie nur an und lächelte breit. Merkend, was geschah und sprang Stone helfend ein. „Also", begann er und lenkte die Aufmerksamkeit beider wieder auf sich: „Ember, das ist Twinkle. Twinkle, das ist Ember, meine Schwester." Also doch. Er hatte es gewusst.
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Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...