Tiënje't - Jahr 30 nach der Ruhe
Tiën saß an seinem wuchtigen Schreiberpult, die baren Füße salopp aufgesetzt, die Schultern bedeckte ein legerer Samtmantel, der zugleich seinen Rumpf und seine Beine einhüllte wie eine Spinne ihr unachtsames Opfer – doch dies waren nicht seine Gedanken. Der König beobachtete den heraufziehenden Morgen und aß einen - oder auch zwei – Marshmallows zu einer Tasse heißen Kräutertees. Aus dem geöffneten Fenster drang ihm eine frische Brise entgegen, spielte mit seinem Haar. Nein, Tiëns Gedanken gingen in eine andere Richtung. Er hatte sich den Brief, den Ember bei sich getragen hatte, Mal um Mal durchgelesen, hatte jedes einzelne Zeichen ausgiebig studiert, hatte Satzstrukturen in sich aufgesogen, hatte das eingravierte Wappen in dem Wachstropfen, das sich ebenfalls als Wasserzeichen auf dem Papier befand, auf mögliche Nachbildung überprüft. Wahrlich, er hatte alles getan, um die Last dieses Beweises auf die Schultern eines anderen zu wälzen, hinunter von denen seines einstigen Vertrauten, der in diesem Moment wahrscheinlich, so mutmaßte er, auf dem Thron seiner kleinen Festung saß.
Die schwersten Vorwürfe jedoch machte sich Tiën selbst. Wie hatte er all die Jahre nur übersehen können, dass der Herzog Slòtgar's das kleine Dorf der Verbannten in eine Forte des Widerstands umbaute; wie konnte er darüber hinaus so blind gegenüber den Ränken Miss Îgams gewesen sein?
Er lachte über seine eigene Verblendung. Bitter. Röchelnd. Hustend. Speiend.
Das Formular auf seinem Pult benötigte einzig seiner Unterschrift damit ein Tötungskommando das trügerische Ratsmitglied ausschalten konnte. Diese einst so bezaubernde Frau, die ihn kaum herzlicher in Tiënje't hätte aufnehmen können.
Für die Beseitigung des ehrenhaften Ritters allerdings bedurfte es mehr als das. Auch dafür würde der anbrechende Tag Zeit leihen. Zunächst musste er sich jedoch um den dreisten Attentäter kümmern, der nun auf Dr. Hatchets Obduktionstisch lag. Aufstehend, unterzeichnete er den Exekutionsbefehl und steckte ihn, sich ankleidend, in die linke Tasche seiner Gewandung, während er aus der anderen eine süße Kostbarkeit hervorzauberte.
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„Siehst du diese rote Färbung?", fragte der Doktor, nachdem er dem Leichnam die Schutzlinsen abgenommen hatte – Seinen Vertrauten hatte Tiën es freigestellt nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob sie Schutzlinsen tragen wollten, oder nicht. Er jedenfalls tat es nicht und Hatchet ebenso wenig.
Auch Tiën sah nun die Schlieren, die über die freigelegte Pupillen und Iriden trieben. Er runzelte die glatte Stirn ein wenig.
„Ich habe noch nie zuvor Vergleichliches gesehen", gab der Betagte zu: „Doch in den Sammlungen Dó'às", er flüsterte den Namen beinahe, da er wusste, dass Tiën ihn nicht hören wollte: „konnte ich ein Buch über die Anhänger Raï'mòndes' finden, in dem dieses Phänomen beschrieben wird."
„Der Gott der Beben und des Zorns?", hakte Tiën nach.
„Eben der. Hat sich vor einigen Jahren von Lùmon' abgewandt und ist nun einer der Freien. Jedenfalls", kam Hatchet auf ihr voriges Thema zurück: „tritt diese Anomalie lediglich bei den Kindern des Raï'mòndes auf."
Tiën verlor für einen Moment seine Fassung: „Soll das bedeuten, Ember wurde von einem Gotteskind ermordet? Wer würde denn solch einem Sonderling Unterschlupf bieten?"
Hatchet räusperte sich ein wenig dramatisch: „Zuerst dachte ich an den kleinen Kreis von Anhängern des Zorns, die sich in einer kleinen Siedlung hier in der Hauptstadt niedergelassen haben – schließlich ist der Glauben an Raï'mòndes nicht verboten -, doch dann stieß ich auf das hier."
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Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...