Herzlos -19-

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Jahr 1 nach der Ruhe

Nie war es seit meinem Erwachen so schlimm gewesen. Die Fragen rotteten sich um mich zusammen, wie eine Horde hungriger Schakale um eine Antilope und sangen in meinem Schädel einen mephistophelischen Chor der bangen Worte und herzzerreißenden Befürchtungen, die zwischen den inneren Windungen meines Gedächtnisapparates hin und her geworfen wurden und in einem frenetisch umherwirbelnden Echo mehr und mehr an Lautstärke zu nahm, mit der sie meinen Verstand malträtierten. Vielleicht war dies der Moment, an dem ich mich dazu entscheid, herzlos zu sein. Was hatte es mir gebracht, mein Herz? War ich nicht immer, selbstverständlich und ohne jederlei Bedingung, freundlich und warm gewesen? Hatte ich nicht jede Gottheit, so schrullig und bizarr sie auch war, mit Respekt, einem Fünkchen Nächstenliebe und, soweit man davon sprechen konnte, Vertrauen behandelt. Keinen von ihnen wies ich ab, keinen belegte ich mit einem gar unflätigen Wort. Wohin brachten mich Menschlichkeit und Ehrenhaftigkeit?

In Gedanken versunken warf ich einen faustgroßen Brocken nach dem katzenähnlichen Geschöpf, das mich schon seit dem Morgen mit seinen trippelnden Schritten in den Wahn trieb. Das Geräusch, mit dem ihm seine Seele entwich war äußerst bekömmlich und regte ein martialisches Lächeln dazu an, sich auf meine verkrusteten blutigen Lippen zu gesellen. Eine Weile trug ich es mit dem letzten Rest stolz, der mir noch inne wohnte, vor mir her, bis ich es mit einem lauten Grölen verscheuchte. Im nächsten Moment drang ein Schluchzer über dieselben Lippen. Ein weiterer folgte und noch eine ganze Schar, während meine Augen peinvolle dunkelrote Tränen ausspie. Was ist nur aus dir geworden, fragte der Chor schmähend. Wer bist du? Was bist du? Aus allen Ecken meines Körpers strömten die hämischen Fragen herbei, um sich auf mich zu stürzen und mich langsam und qualvoll zu richten.

Tiën? Jarome? Der Erste? Wer bist du?

Ich stöhnte und schlug mir gegen meinen zum bärsten angespannten Kopf. Jeder einzelne Muskel, jede Faser meines Körpers zuckte in einem ungleichen Rhythmus des Untergangs und ich fiel in einen Nebel, der um mich herum waberte, verdeckte und mich gleichzeitig entblößte.

*****

Ich wusste nicht, seit wann ich lief, oder ob ich in die richtige Richtung lief, oder ob es eine richtige Richtung gab. Ich wusste nicht, wer ich bin, doch ich wusste, dass es ein klarer Moment war, den ich durchlief, und ich wusste, dass es vielleicht mein letzter sein könnte. Die Sonne stand mir im Rücken und schien mich anzutreiben; weitere Kraft zu geben. Da brandete der Chor der Fragen auch schon wieder auf. Was tut Lùmon'? Hat er dich verlassen? Ist es ihm gleichgültig, was aus dir wird? Ist das sein Dank dafür, dass du die Welt rettetest? Ich wollte den Fragen wiedersprechen. In jedem Punkt, doch letztendlich waren es meine Fragen und meine Fragen hatten Recht.

Ich drehte mich um, um der Sonne ins Gesicht zu sehen, doch etwas anderes zog meinen Blick auf sich. Drei schwarze Statuen standen der Größe nach geordnet da und schienen das warme prächtige Licht des Gestirn aufzusaugen und in teuflischen Hass umzuwandeln: mein Schicksal hatte mich am Ende doch noch eingeholt. Die Stimmlage des privaten Chors fuhr drei Oktaven in die Höhe und die Schakale, die diese Fragen waren, gingen knurrend in Position.

Strafend blickte ich die Sonne an, was meine Augen warnend zischen ließ, und ich ging erneut in die Welt des blassen Nebels über.

*****

Ein wunderbarer Geschmack ließ mich meine Augen öffnen. Ich lief den Pfad zwischen den Bergreihen entlang und nach dem Gefühl in meinen Beinen lag die letzte Pause weiter zurück, als der letzte bewusste Moment, an den ich mich erinnerte. Er war durchdringend süß, aromatisch und einfach himmlisch, der Geschmack des Marshmallows. Wann hatte ich ihn gegessen? Ich war es, der die Frage stellte. Ein seltsames Gefühl das selbst erledigen zu müssen (nicht, das ich nicht froh über die Absenz der Stimmen war). Die Sonne stand entweder immer noch, oder schon wieder in meinem Rücken und beflügelte meine federnden Schritte. Mit einem knappen Blick überprüfte ich, ob die Gaben der Nacht noch hinter mir her waren und zumindest waren sie so weit entfernt, dass sie außer Sichtweite geraten waren. Ich fühlte mich perfekt. Mein Atem ging durch unbeschadete Lungen, als hätte ich nie an Silikose gelitten. Meine Augen sahen scharf und das Blinzeln bedeckte sie mit einem dünnen Film meines eigenen Tränensekretes (obwohl es mir sicherlich nicht aufgefallen wäre, wäre es das Sekret eines anderen gewesen). Meine Nase filterte die Luft von Sand, Staub und dem widerlichen Gestank des Zerfalls und nur mein einer Daumen fühlte sich ein wenig geschwollen an. Aber lieber eine Nase, als zwei Daume, nicht wahr?

Eine Prise SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt