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Slòtgar' (Dorf der Verbannten) – Jahr 30 nach der Ruhe

Sie hatten lange dagesessen, als die Sonne über dem Wirtshaus aufging. Twinkle hätte nicht noch einmal unter der Aufsicht des Schattenauges Schlafen können – ob er überhaupt noch in seiner Anwesenheit Schlaf finden konnte? – und Awe machte nicht den Anschein, überhaupt Erholung zu brauchen. Je länger sich Twinkle den Kopf über seinen Begleiter zerbrach, desto unheimlicher wurde ihm die bleiche teilnahmslose Gestalt, die dort in der anderen Ecke des Raumes saß und über ihren eigenen maliziösen Gedanken brütete. Er musste an Ember denken. Wie konnte er ihr nur je wieder in die Augen sehen? Was könnte er Stone sagen, wie sollte er ihm die plötzliche Veränderung erklären? Nur eines erschütterte ihn noch mehr, als der Verrat an seinen einstigen Freunden: Wie sollte er sich selbst je wieder ohne Schuldgefühle, ohne Abneigung im Spiegel betrachten können? Es war ihm erst kürzlich aufgefallen, als er den Weg des Mondes durch das runde Fenster ihres Zimmers verfolgt hatte und sich sein Gesicht in dem schmutzigen Glas gespiegelt hatte, das Gesicht eines anderen. Wieder musste er sich an sich reißen, um nicht zu würgen. Aus seiner Vision wusste er, wie er früher ausgesehen hatte, doch mit der ordentlichen Frisur, den adretten Kleidern, den lebhaften Gesichtszügen, hatte er kaum noch etwas zu schaffen. Die schlaffe Haut unter seinen Augen, der kalte Blick oder die Falten auf seiner Stirn konnten weder Ursprung seines Alters noch der wenigen Pflege sein, die er sich seit seinem Erwachen zugemutet hatte. In wenigen Wochen schien er Jahre gealtert zu sein und das kalte Gewicht auf seinen Schultern war ihm fremd. Gott, hatte er sich gewandelt! Wichtiger denn je schien es ihm nun das Orakel Slòtgar's ausfindig zu machen und danach – danach hieß es Abstand zu der Quelle seiner Schmerzen zu gewinnen. Die Sonne stach unangenehm durch das Fenster auf ihn hinab.

*****

Sádof war beunruhigt. Es widerstrebte ihm tagsüber in den Gassen des Dorfes herumzuspazieren, anstatt in seinem kalten unbehaglichen Bett zu liegen und Schlaf zu suchen. Kaum nachdem die Zeremonie zum Abschluss seiner Ausbildung in der vorigen Nacht vollendet worden war, hatte er sich auch schon wieder auf die Suche nach seinen beiden ahnungslosen Freunden machen müssen – und sie waren nirgends aufzufinden. Weder in ihrem kleinen Haus, zu dem er sich gewaltsam hatte Zutritt verschaffen müssen, noch in der Bibliothek, oder – was er allerdings auch nicht erwartet hatte – bei der verbannten Ärztin Rhôl'a, die sein Meister Sîlîas Doktor Silent nannte und die die beiden zuvor auf ihre brüske Art begrüßt hatte.

„Sind sie bei dir?", hatte er gefragt, nachdem die Frau mit rotbesprenkeltem Kittel aus ihrer Hütte getreten war und sie hatte mit Verwirrung klar gemacht, sie begegne jeden Tag so vielen Menschen, dass sie unmöglich erraten könne, von wem er spräche. Da war Sádof klar geworden, dass es tatsächlich nicht so unwahrscheinlich wäre, die Gesuchten bei der ehemaligen Ärztin anzutreffen. Die Verneinung, die auf seine Erklärung folgte war die wohl die größte Erleichterung gewesen, die er in den letzten Nächten hatte erleben dürfen, zumal dies an einem Tag noch ein besonderes Glück darstellte. Sádof hatte sich bedankt und dann wieder auf seinen Weg gemacht. Dass Rhôl'a ihm nicht zu seiner Zeremonie gratuliert hatte, konnte er der Chirurgin, die von den anderen Anhängern Noctîas gemieden wurde, nicht übel nehmen.

Bei der Vorstellung seine beiden „Freunde" auf einem ihrer Tische wiederzufinden, lief ihm noch immer ein Schauer über den Rücken. Die Experimente, die sie zur Erforschung ihrer eigenen Theorien an sich und an anderen Menschen durchführte, wurden von Sîlîas, der seit der Abholung der Mächtigste und damit nach alter Tradition der Führer ihres Glaubens in Slòtgar' war, nicht respektiert, gar verachtet, und trotz der Dankbarkeit, die Sádof seinem alten Mentor schuldete, sah er bereits, wie Sîlîas ihren Glauben in den Untergang trieb. Es wurde Zeit, dass er seine Ideen und Forderungen laut aussprach. Es wurde Zeit, dass seine Religion von ihren extremen Sichtweisen abließ und den ersten Schritt auf Tiënje'ts Herrscher zu machte. Anhänger des Tages und der Nacht sollten nebeneinander existieren können und auch die kleineren religiösen Gruppierungen sollten ihren Platz in diesem neuen friedlichen Zeitalter haben.

Eine Prise SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt