Slòtgar' (Dorf der Verbannten) – Jahr 30 nach der Ruhe
Twinkle sah ihrem bisherigen Führer etwas ungläubig hinterher, dann wandte er sich Awe zu.
„Was meinst du, versuchen wir dieses Orakel auf eigene Faust ausfindig zu machen?"
Awe nickte etwas abwesend, doch setzte sich auch schon in Bewegung, bevor Twinkle ihn darauf hätte ansprechen können. Die Dinge, die Dó'à gesagt hatte, brachten ihm zum Grübeln und er hatte das Gefühl – vielleicht mochte es unbegründet sein -, dass der Spruch ihn gemeint hatte. Schließlich war er ein Anhänger der Nacht, der tatsächlich auf dem Weg war, einen „seiner Art" auszuschalten. Noch dazu hatte er diesen Auftrag von einer mächtigen Göttin erhalten und es hieß, dass die Mächtigen ihre Finger im Spiel haben sollten. Die Kälte hatte damals als Gegenleistung die Ermordung eines Königs gefordert. Sánnel sollte er sich nennen und in einer entlegenen Stadt über eine Zahl von Nachtanhängern herrschen. Aus gutem Grund hatte Awe bisher nicht zu viele Gedanken an die ihm bevor liegende Zeit geworfen, doch nun holte ihm das alles ein. Was ihn jedoch erst von der Hypothese, er könnte dieser Verräter an seinem Blut sein, überzeugte, war die Kraft, die er mit einem Mal in sich gespürt hatte, als er sie benötigt hatte. Sicher er wusste noch immer nicht viel um die Magie, die seine Göttin ihm und weiteren verlieh und hatte wahrlich ebenso viele Frage wie Twinkle, doch noch nie zuvor hatte er von solch einem Zustand der Dematerialisierung gehört oder gar gewagt, darüber nachzudenken. Im Endeffekt war es ihm gleich, ob er die Anhänger der Nacht in den Tod treiben würde oder nicht. Ihn verband nichts mit Ihnen – außer seinem Bruder – und wenn er so darüber nachdachte, wäre es ihm auch um Twinkle nicht zu schade. Vielleicht werde ich etwas von dem Orakel erfahren können, sollte es tatsächlich existieren.
Twinkle kümmerte sich nicht um die fehlende Gesprächigkeit seines Begleiters; die Unterhaltung, die er herbei wünschte, war keine mit Awe. Nein, das Orakel wollte er nicht nur aus dem Grund aufsuchen, das die Prophezeiung über den Untergang der Nachtanhänger ihn beeindruckt hatte – das ganz sicher nicht -, vielmehr hatte er seine eigenen Gründe. Zwar schätzte er die hellseherischen Kräfte dieses Priesters, oder was auch immer es sein mochte, nicht höher ein, als er für vernünftig hielt, doch würde er allzu gern die Wahrheit über seinen Freund herausfinden, ihm die Maske herunterreißen und in dem unverhülltem Gesicht nach der Antwort auf seine Frage suchen: Weshalb hatte Awe ihn dazu gebracht, sein Weltbild auf den Kopf zu stellen, ein anderer zu werden, wie er zu werden? Er seufzte nicht. Twinkle hätte an seiner Stelle geseufzt, doch das, dieser Mensch, zu dem er sich gewandelt hatte, tat es nicht. Nun seufzte Twinkle doch, aber aus dem Grund, das ihm diese Wahrheit zum ersten Mal klar wurde und nicht, weil er seufzen wollte, um wie der alte Twinkle zu sein – was insgesamt ziemlich kompliziert war und ihm den Anreiz zu einem weiteren Seufzen schaffte.
Wie die beiden so durch die verwinkelten Gassen liefen wurde schnell klar, dass sie ohne Hilfe nur durch einen riesigen Zufall auf den Seher stoßen konnten, der sich hinter dem Orakel verbarg, und die Wahrscheinlichkeit dafür stand für zwei vom Leben geprüfte Seelen nicht sonderlich gut. Ein rascher Blick genügte und das neue Ziel war klar, doch dem Umstand geschuldet, dass es Nacht war, konnten sie nur noch in einer der allzeit geöffneten Kneipen mit einer größeren Menschenmenge rechnen, in der jemand mit dem benötigten Wissen aufzufinden war.
*****
Shades Schritte beschleunigten sich, bis er rannte und ihm die lange Kutte zwischen den Beinen herumschlackerte. Es war soweit! Heute war es endlich soweit! In der Nacht lag ein angenehmer Duft, eine Mischung aus bevorstehendem Sieg und süßem Trost, die sich über den Kloakengestank Slòtgar's legte und die Nase des Lehrlings zu tätscheln schien. Er hatte sich den Fremden nicht vorgestellt, wozu auch? Bald wären sie wieder fort und sicher verstaut in der Hauptstadt unter der Aufsicht des kranken Herrschers, der die Fehler der Vergangenheit mit einer Genauigkeit wiederholte, über die Shade nur den Kopf schütteln konnte. Hatte die Unzulänglichkeit des letzten großen Königs nicht bewiesen, dass es falsch war eine der beiden Glaubensrichtung zu verbieten? Und auch wenn das vor der Zeit der Ruhe geschehen war, machte es diese Erfahrung doch nicht nichtig! Andererseits hätte Shade auch mit seinen Vertrauten hier in dem Dorf der Verbannten nicht darüber reden können. Sein Meister und die wenigen Anhänger der Nacht, die geblieben waren, hatten eine deutlich extremere Ansicht, als er, und würden die Religion des Tages ohne zu zögern unterdrücken, gäbe sich eine Gelegenheit dazu. Nein, hier gab es niemanden, der so dachte wie er und mit den anderen Verbannten, die sich mehr oder weniger schweren Delikten schuldig gemacht hatten, brauchte er erst gar nicht zu reden.
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Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...