Vor Tiënje't - Jahr 30 nach der Ruhe
„Muuuuuley! Wir reiten!", sang Ember ausgelassen vor sich hin und her und wenn es sich ergab fielen Stone und Twinkle mit einem zusätzlichen: „Wir reiten!", ein. Auch Uliir „Saw" und seine Männer summten eine fröhliche Melodie, die sich auf bezaubernde Wiese an Embers Gesang anschmiegte, die Maultiere ließen ihre Hufe auf den lehmigen Boden stampfen und ein Ambiente der Ausgelassenheit hatte sich über die beherzte Karawane gelegt.
Awe jedoch konnte nicht aufhören, seine Stirn zu runzeln – und er befürchtete, dass seine Stirn am Ende ihrer Reise kaum noch als ebendieses zu erkennen sein könnte -, doch nicht nur seine Stirn, sondern auch das elendige Reiten, diese Tortur für Gesäß und Rücken, sollte demnächst ihr Ende finden. „Tatsächlich liegt nur noch eine Tagesreise vor uns", hatte Uliir ihm Auskunft gegeben. Er konnte ihn nicht leiden, ja, Awe verabscheute ihn so eindringlich, dass er kaum gezögert hätte, Uliir „Saw" mit seinem Reittier auf eine Stufe der Abscheu zu setzen...
Huch!,da war es geschehen. Gerade als Saw die Luft mit einem „Muuuuuley! Wir reiten!" zum Scheppern brachte, war er auf der Treppe der Missgunst ein weiteres Stückchen aufgestiegen.
Awe nieste, nieste ein weiteres Mal und dieses Niesen wandelte sich zu einem schlimmen Hustenanfall, der erst zum Erliegen kam, als Awe sich einen ordentlichen Schluck kühlen Nasses zustand – nicht, dass er lange gezögert hätte.
Als das Gelächter seiner Mitreisenden verstummte – als Awe merkte, dass seine Mitreisenden seit geraumer Zeit in schallende Unvernünftigkeit ausgebrochen waren – trat er seinem verhassten Maultier in die Flanken, um das Stück zu den anderen aufzustoßen.
Vor Awe, Twinkle, Ember, Stone, Uliir „Saw", Leg, Flow und Salonius „Liar" wandelte sich der von einigen Grasbüscheln, die hier und dort aus dem Lehm schossen, bewachsene Erdboden zu einer recht saftigen, grünen Wiese. Blumen mit weißen Köpfen lugten aus der, sich im Wind wiegenden, Vegetationsdecke hervor und fleißige Arbeiter flogen zwischen ihnen hin und her, tummelten sich in der, von lieblichen Düften erfüllten, Luft.
Nur die abgestorbenen Kohlenstümpfe offenbarten Twinkle die dunkle Wahrheit, die dieses Paradies der Reinheit barg. Eine Reinheit, die Awe Tränen in die Augen steigen ließ – nie zuvor hatte er solch eine Fülle von Farben gesehen, nie an diese Möglichkeit gedacht -, eine Reinheit, die Stone in ein abruptes wirres Lachen ausbrechen ließ und seine Tasche, die kein Verständnis für die Freude an diesem Wunder der Natur zeigte, zu den Worten: „Wer hat hier nun das schwarze Herz", verleitete, die sie sich eigentlich für einen späteren Zeitpunkt hatte aufheben wollen, eine Reinheit, die Ember dazu trieb, sich in dieses grüne Meer zu stürzen. Und schließlich eine Reinheit, die Uliir „Saw" einzig mit einem „Jawoll-Tatsächlich!" bezeichnen konnte.
„Hier beginnt Tiënje't", erklärte Flow überflüssigerweise und Awe hätte den Gardisten für seine gekünstelte hohe Stimme gerne – wenn er nicht diesen allumfassenden Frieden in sich gespürt hätte; diese Innere Ruhe, diese Ausgeglichenheit.
Das letzte Stück ihres Weges legte Ember in tiefster Zufriedenheit zurück. Kleine Häusergruppen, mit noch kleineren Menschen, die auf riesigen Ackern werkelten zogen zu beiden Seiten an dem Tross vorbei und ehe Ember sich versah war die Wiese einem Trampelpfad und dieser einem immer breiter werdenden Weg gewichen, der sich zu einer gepflasterte Straßen wandelte. Grundstücke wurden größer, Häuser prächtiger, Äcker machten Mühlen Platz und schließlich erreichten sie ein Tor von monumentaler Größe.
„Vor uns liegt das Zentrum Tiënje'ts, das zugleich der älteste Teil der Stadt ist", erzählte Uliir, der auf dem Weg immer wieder Anekdoten zu einzelnen Siedlungen gegeben hatte: „Hier fand vor ziemlich genau dreißig Jahren die Wahl statt, aus der Tiën, unser König, als Herrscher dieses Landes herausging. Er wird euch auch hier empfangen" Der Gardist lächelte verheißungsvoll.
Aus dieser anderen Welt hinter dem Tor – hier waren die Villen noch anmutiger, noch prunkvoller – drangen Geräusche der Geschäftigkeit; in mondäne Roben gekleidete Männer und Frauen gingen mit leeren Körben hinein und kamen mit süßen Früchten, Tüchern und allerlei anderen Habseligkeiten wieder heraus. Es wurde gefeilscht und angepriesen, gekauft und gesucht. Es wurde gelacht und noch ein weiteres Mal angepriesen und gefeilscht – bis ein bedrohliches Röhren diese Marktatmosphäre verschlang.
Aufgeschreckt sah Ember zu Uliir auf, doch als dieser nur wieder vielversprechend nickte, legte sie ihren Kopf in den Nacken und sog die reine Luft ein, genoss die Sonne auf ihrer sommersprossigen Haut und in ihrem flammendem Haar.
Auch Twinkle und Stone sahen sich etwas besorgt um - Awe war einfach nur froh von diesen Maultieren herunter zu sein -, doch bevor ihr Erstaunen in wahrhaftige Furcht umschlagen konnte, zeigte sich bereits die Quelle des Rumpelns und des Qualms in der Luft.
Ein riesiges metallenes Gefährt preschte um die Ecke ins Sichtfeld und kam quietschend und schwarze Spuren ziehend zum Stehen; Twinkle musste schlucken. Noch war es nur eine Ahnung, doch sollte sich diese bestätigen, als sich die Tür auf ihrer Seite öffnete und ein edelmännischer Herr aus diesem abenteuerlichen Vehikel ausstieg.
Twinkle fühlte sich in der heranrollenden Welle aus Gerüchen geradezu erstickt – und wie in seiner Vision war es dieser durchdringende süßliche Geruch. Süßlich mit einer Priese Schicksal.
In ebendiesem Moment sprang eine weitere Gestalt von hinten an die Wartenden heran – schneller, als das man die Richtung hätte ausmachen können, aus der sie gekommen war – und rammte Ember, von blinder Wut beseelt, um, sodass beide zu Boden gingen.
Stone hörte Saw einen kurzen Befehl brüllen, war selbst jedoch wie erstarrt und eine bange Weisheit drückte ihm den anklagenden Finger gegen die Schädeldecke.
Leg und Flow zogen die vermummte Gestalt von Ember herunter - während Salonius „Liar" sich schützend vor den Edelmann stellte – und offenbarten Arges. In dem regungslogen Körper, der nun sein Feuer, seine atemberaubende Eleganz verloren hatte, steckte ein triviales Brotmesser.
Es war nicht lang. War nicht breit. War kaum scharf – und doch.
Und doch hatte es ausgereicht. Stones Augen kniffen sich in einem Anfall zuckend zusammen, doch war er nicht in der Lage, eine Träne zu vergießen. Nicht Eine. War sein schwarzes Herz nicht in der Lage. Und er hatte es in seinem Traum gesehen. Hatte er es nicht ernst genommen – zu Herzen genommen? Doch; er bekam kaum mit, was die Gardisten mit der vermummten Gestalt anstellten. Er hatte es nicht verhindern können. Er hatte es ernst genommen, er hatte es sich zu Herzen genommen, doch er hatte es nicht verhindern können. Alle Kraft schwand aus den muskulösen Beinen Stones - er sank auf den Boden - und aus seinen Schultern. Seine Lider bebten nun nur noch leicht, doch er wollte nichts mehr sehen, wollte nichts mehr hören.
Twinkles Starre fiel, wurde von Stone mit zu Boden gerissen, und er machte einen Satz zu dem Körper. Am Boden. Über Ember kniete Muley in einer Weise, die nichts mehr mit dem Band zwischen Tier und Mensch zu tun hatte. Ein Arm streichelte sanft über Embers Wange und es war tatsächlich ein Arm und kein Vorderlauf. Tränen sprudelten aus Twinkles Drüsen hervor und fielen auf Embers Haar - hatte es ihren Tod bedurft, um ihm zu zeigen, dass sie Recht gehabt hatte? -, das nun nicht mehr strahlend rot, sondern leiht orange war, benetzten ihre Lippen, die nun nicht mehr voll und versprechend, sondern fahl und brüchig waren. Embers Zauber war verflogen und hatte einen Teil Twinkles Herzen mitgerissen; mitgerissen in den tiefsten aller Abgründe.
Das Klacken von bewusst aufgesetzten Schuhen ließ Twinkle schließlich herumfahren. Der Fahrer des Gefährts betrachtete, umgeben von Gardisten, den Attentäter, doch da stand Mill, eilte, rannte auf sie zu, stürzte an Embers Seite – alles arrogante Gehabe vergessend.
Diese Stimme:
„Lasse sie in unser Krematorium bringen, Uliir", wendete sich Tiën seinem Getreuen zu, und
diese Stimme
ließ Twinkle in aller Trauer aufhorchen.
Dies war der Mann, der ihn entführt, seinem Gedächtnis beraubt und in der Fremde ausgesetzt hatte.
DU LIEST GERADE
Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...