Jahr 30 nach der Ruhe
„Wie steht es um unseren Patienten, Herr Doktor?", verlangte ich von dem Arzt zu wissen.
Dr. Hatchet, ein weißbekittelter Mann im Herbst seines Lebens, dem jeder Verlust eine weitere Falte in die Stirn und ein weiteres graues Haar in Schopf und Bart gesetzt hatte, blickte mich nachdenklich an. Es war ganz zu Beginn meiner Herrschaft gewesen, da ein junger Gelehrter frohgemut vor den Mauern der sich noch im Aufbau befindenden Stadt aufgetaucht war. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem er nicht gearbeitet, oder kein Menschenleben gerettet hätte, doch die Fehlschläge, die unweigerlich mit dieser Arbeit einhergingen, hatten die einst so strahlende Seele starr und ausdruckslos werde lassen. Wann hatte ich ihn das letzte Mal Lächeln gesehen, wann lachen gehört? Ebenso schnell, wie seine Jugend und seine Freude, hatte der engagierte Gelehrte auch das Ansehen verloren, das ihm zu Beginn seiner Laufbahn als königlicher Arzt von allen Seiten entgegen gebracht worden war und seit den letzten Wochen schon begann die Missachtung in Gespött und angedeutete Schmähungen auszuarten. Diesen Verächtlichkeiten schenkte Hatchet allerdings keine Beachtung, was mich wiederum einmal mehr von der Zuverlässigkeit meines seriösen Vertrauten überzeugte.
„Majestät? Tiën?"
„Ah ja, wie war das gleich?"
Hatchet wiederholte die Worte, die ich in einer meiner nicht zu selten auftretenden Gedankenschübe verpasst hatte, und ich bezweifelte nicht, dass er es nicht auch noch zwei weitere Male getan hätte.
„Die Lage unseres Patienten hat sich stabilisiert. Er ist noch etwas dehydriert und ausgehungert und er wird noch einige Tage ans Krankenbett gebunden sein, doch wie es aussieht steht ihm Illraeos bei. Ihr könnt mit ihm reden, wenn es euch beliebt. Sofern ihr nicht noch ein Gespräch mit einem-"
„Nein, das ist gut, Doktor", unterbrach ich dankend: „Und Hatchat, nimm dir ruhig ein paar Tage frei." Ich lächelte ihm noch einmal verbunden zu. Nie könnte ich ihm genug des Dankes entgegenbringen, ihm, dem ich mehr als nur mein Leben verdankte.
Hatchat verbeugte sich leicht –den Wechsel in der Anrede war er längst gewohnt und hielt es ohnehin genauso- doch ich wusste, dass er das Angebot wie jedes Mal ausschlagen würde.
Wie von selbst glitt meine Hand in die rechte Tasche meiner Robe, während ich mich auf den Weg zu meinem Patienten machte, und es raschelte, als ich einen hellrosafarbenen Marshmallow aus der Tüte direkt in den Mund schob. Der Raum, den ich betrat, war von reinen weißen Kacheln umhüllt. Es roch steril, aber nicht klinisch und außer den beiden Unbenutzten gab es lediglich ein Bett, in dem Mill lag. Man war sehr vorsichtig mit der Raumbestückung gewesen, da kein Patient einen Schock bekommen sollte, wenn mitten in der Nacht eine perfide Kuckucksuhr ohne zu Fragen ihre grausigen Klänge spielte (wobei es sicherlich beunruhigender wäre, von ihr nach Erlaubnis gefragt zu werden).
„Wo habt ihr mich nun schon wieder hingebracht", drang eine garstige Stimme aus dem belegten Bett. Darauf wühlte sich der junge Mann mit unfreundlicher Miene aus dem Haufen Decken hervor. Seine Züge spiegelten Ekel wieder, als er die verkrusteten Einstichlöcher an seinen Armen erblickte.
„Was hast du mit meiner Haut getan?!", richtete er sich nun an mich und seine Stimme erreichte Oktaven, die außerhalb menschlicher Möglichkeiten stehen sollten. Plenius feiert ein Fest.
„Du solltest mir danken. Meine Ärzte haben dich durch diese Löcher mit Nahrung und Wasser versorgt, als du... in einer Art tiefen Schlaf lagst", versuchte ich ihn zu beruhigen, doch dabei musste ich mir selbst eingestehen, dass diese Methode noch nicht ausgereift genug war, um sie in Normalfällen anzuwenden.
„Danke", spuckte er widerwillig aus: „Meine Frage bleibt. Was bist du für ein Mistkerl und wo hast du mich diesmal hin verfrachtet?"
Ich grinste; seine stolze impulsiver Art imponierte mir, genauso, wie mir Hatchats Art imponiert hatte. Diese Sorte von Leuten sammelte ich gerne um mich. Sie waren tüchtig, begabt, loyal und seriös - oder wurden es mit der Zeit.
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Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...