Slòtgar' (Dorf der Verbannten) – Jahr 30 nach der Ruhe
Nach ihrer ersten Nacht in einem Bett, nach ihrem ersten erholsamen Schlaf unter Menschen, wurde Ember von einem Engel geweckt. An ihrem oberen Bettenden stand eine zierliche Frau, deren Alter schwerlich einzuschätzen war. Noch anmutiger als der zerbrechlich zarte Körper des Geschöpfes war das feine Gesicht, dessen Züge die eines Kindes hätten sein können. Nur die Augen bezeugten ein weiter fortgeschrittenes Alter; das Blau war so durchdringend und wissend, dass es Ember den Atem verschlug. Wie ein Heiligenschein lagen die blonden lockigen Haare seitlich um ihren Kopf geflochten und das Sonnenlicht, das durch mehrere Fenster einfiel, ließ ihre ganze Gestalt in reinem Lichte erstrahlen.
„Du musst Ember sein", stellte der Engel fest.
Einen Moment brauchte sie noch um Schlaf und die Bezauberung abzuschütteln, bevor Ember bewusst wurde, dass es sich um keinen Himmelsgesandten handelte, sondern um einen Bewohner des Dorfes. Die dürftige Kleidung – eine Mischung aus Leinentüchern und einfachen Stoffen – hatte sie verraten.
Die Frau, die doch kein Engel war, lächelte ein unbeflecktes reines Lächeln und bedeutete Ember sich anzuziehen und ihr zu folgen. Dann wandte sie sich ab und verließ das kleine rechteckige Haus ohne weitere Erklärungen. Kurz darauf tat es auch Ember ihr, mit gewaschener und doch mitgenommener Bluse und Hose, gleich, nachdem sie noch einen Blick auf Stone geworfen hatte, der ruhig in seinem Bett lag und schlief.
Vor der Tür erwarteten sie die engelsgleiche Frau mit einem Abbild ihrer selbst, das wie die Kopie eines unbeholfenen Malers wirkte, aber – das kam Ember dann doch wahrscheinlicher vor – ihre Schwester war.
„Wir hoffen, du konntest Schlaf finden", sprach die Kopie und schien seltsam entschuldigend. Ember zog erstaunt beide Augenbrauen in die Höhe: „Ohne übertreiben zu wollen, kann ich sagen, dass dies der erholsamste Schlaf war, den ich jemals erfahren durfte." Oder an den ich mich erinnern kann, fügte sie für sich hinzu.
Von neuem zeichnete sich dieses wunderbare Lächeln auf den schmalen Lippen der „echten" Frau – Ember schalte sich für diese despektierliche Bezeichnung - ab und sie säuselte: „Das ist meine Schwester Hope und mich nennt man Angel."
„Wir trugen andere Namen, waren Personen von keinem hohen aber doch nennenswerten Rang, bevor wir zu einem Leben in diesem Verlies gezwungen wurden. Hier sind alle Erfolge, die man in seinem bisherigen Leben hatte nichtig. Um unsere alten Namen nicht zu beschmutzen sind wir andere Menschen geworden."
Ember schluckte. Was Hope für sie nur zu einer Kopie gemacht hatte, der Fehler des Malers, war der Optimismus und der Lebenswille, von dem sie im Vergleich zu ihrer Schwester nur eine winzige Portion besaß. Und die Verbitterung mit der sie sprach ließ Ember sicher sein, dass auch sie einst nur so von Lebensenergie und –Mut gestrotzt hatte, bevor sich alles zum schlechteren gewandt hatte. In einer Welle von Mitgefühl umarmte Ember die beiden Schwestern nacheinander, die die Umarmung gerührt erwiderten.
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Stone lag still in seinem Bett, sein Atem ging flach und auch sonst verriet nichts die Alpträume, die ihn plagten. Lediglich seine Augen arbeiteten wie verrückt unter der dünnen Haut seiner Lider.
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„Nein, ganz ehrlich! So wunderbar wie in der letzten Nacht habe ich nie geschlafen", lachte Ember während die beiden Schwestern noch immer nur den Kopf schütteln konnten.
„Allein daran erkennt man schon, dass du nicht aus Tiënje't kommen kannst. Hättest du je in einem Bett geschlafen, wärest du auf den strohgefüllten Matratzen Slòtgar's unweigerlich umgekommen", erklärte Hope lächelnd und doch war der giftige Unterton unverkennbar.
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Eine Prise Schicksal
FantasyFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...