Slòtgar' (Dorf der Verbannten) – Jahr 30 nach der Ruhe
Als Twinkle erwachte - die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, doch es war einfach ein zu ungewohntes Gefühl, am Tag zu schlafen – fühlte er ein schwaches Kribbeln in seinem Rücken; ein beunruhigendes Gewicht lastete auf ihm, das das Atmen erschwerte. Er fühlte sich beobachtet. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, pochte unregelmäßig und in einer Lautstärke, die wohl durch das gesamte Dorf zu vernehmen war, und dennoch, er drehte sich nicht um, vergewisserte sich nicht, wer da auf ihn hinabstarrte. Ohne Zweifel musste es Awe sein, der ihn in seinem vermeintlichen Schlaf beobachtete. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er richtig gehandelt hatte, ob es richtig war, ein Anhänger einer Göttin, einer Göttin der Nacht zu sein, ob es richtig war, Awe sein Vertrauen zu schenken. Hatte er ihn nicht immer für geheimnisvoll, bedrohlich und in gewisser Weise fragwürdig gehalten? Und hatte er sich nicht darüber gewundert, wie er Stone beschuldigt hatte? Hatte er in diesem Moment denn keinen Abscheu gegen den einst so gruseligen Mann verspürt, mit dem er sich nun das Haus und das Bett teilte? Die Antwort war ein Ja und es war ein Ja von der bestimmten Sorte, ein Ja, das dazu stand, ein Ja zu sein, doch wenn er diese Fragen so rasch beantworten konnte, wie um alles, was ihm heilig war – und das war zugegebener Maßen nicht vieles – hatte Awe dann sein Vertrauen erlangt? Diesmal war die Antwort ein Ausdruck des Unwissens, eine gekräuselte Stirn, ein Paar geschürzter Lippen, doch in den letzten Tagen schien sich alles geändert zu haben: Twinkle hatte an den Lippen des Erfahreneren gehangen, hatte mit ihm Wasser vergeudet und sich über das Leiden der „Ungläubigen" amüsiert, die keine Woche zuvor noch zu seinen Freunden gezählt hatten: Nicht zu Letzt hatte er jedes einzelne Wort, das aus Awes Schlund gedrungen war, geglaubt, ohne einen Einwand, ohne den Funken eines Bedenkens, hatte er sie geschluckt und hatte sich von dem Weg abbringen lassen, auf dem er die wenigen Momente seines Lebens nach seinem Erwachen gewandelt war.
„Twinkle", raunte Awe leise: „Bist du wach?"
Ja, das bin ich, dachte er, ohne sich zu regen, und als das Wort verklungen war, als kein Mucks mehr die unstete Stille des Hauses, die hin und wieder von einem leisen Trippeln, einem Knarren oder einem Quietschen unterbrochen wurde, belastete, war Twinkle bereits wieder mit einem Gedanken eingeschlafen.
Wer bin ich?
*****
Der Mond stieg auf, kletterte über die Hänge der Berge, streifte ihre Gipfel, lachte den verschiedenartigen Wesen zu, die er auf seiner Fahrt entdeckte, und erklomm das Himmelszelt, bis nach oben, bis zu seinem höchsten Punkte. Es war das gleiche Spiel, das sich in jeder Nacht wiederholte. Nicht, das diese Monotonie den Mond in irgendeiner Weiser ennuyiert hätte, nein, doch das sein Weg wenig Abwechslung bot, war ein unumgänglicher Fakt. Einen kleinen Trost immerhin, konnten ihm die Menschen bieten, die sich Häuser bauten; zumeist gesammelt an einem Ort. Wenn es eines gab, was er genoss, dann war es, ihnen bei ihrer Arbeit zuzusehen, oder– sofern sich diese Möglichkeit ergab – einen Plausch mit ihnen zu halten. Er erinnerte sich an viele solcher Gelegenheiten, meist hatte er den Kontakt zu Anhängern Noctîas gepflegt, doch wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war und er sich in der Stimmung fühlte, dann hatte er auch zu anderen Menschen gesprochen, die aus anderen Gründen wachten, wenn die Welt schlief. Denn nur wenn die Nacht über dem Land lag, war es ihm möglich, seinen Weg anzutreten und sein klares weißes Licht auf die Erde fallen zu lassen.
Nun spähte der Mond auf ein kleines Menschendorf hinab, das aus verwinkelten Gassen und kleinen eckigen Häusern bestand. Dieses Dorf hatte sich in der jüngsten Vergangenheit als sehr unterhaltsam gezeigt; es gab einen großen Anteil an Anhängern der Nacht, es gab zu Weilen Aufstände, ein paar wenige Konflikte und einst hatte sich eine Gruppe von Nachtanhägern einen Weg aus dem Dorf hinaus gesucht. Gewaltsam. Was genau es damit auf sich hatte, wurde ihm zwar nicht wirklich klar, doch er vermutete in dem Dorf eine Art erzwungenes Exil, ein Ort an dem man die Ungewünschten hinschickte, und diese Ungewünschten waren nun einmal seine bevorzugte Menschenart, nämlich die, die sich Noctîa verbunden fühlten.
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Eine Prise Schicksal
FantasiaFünf Menschen erwachen, ihrer Erinnerungen bestohlen, in fremden Land. Die Zeit der Ruhe ist vorbei, soviel steht fest, doch wer ist Verbündeter und wer Feind? Und was ist vor der Ruhe mit ihrer Welt geschehen? Eine Geschichte um Erinnerungen, Götte...