Persönlicher Abgrund -36-

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Tiënje't - Jahr 30 nach der Ruhe

„Ducken! Ducken!", quiekte Angel, die neben ihrer Schwester im Gebüsch saß. Im Stillen hatten Hope und sie das Attentat auf Ember mit verfolgt, hatten die Chance auf Freiheit vor ihren Augen vorbeigleiten sehen: der Brief, den Ember hatte überbringen sollen war so kurz vor seinem Ziel also doch noch in die Hände des Feindes gefallen – und sie? – und sie hatten in ihrem Auftrag versagt, die Übergabe zu sichern. Welche Erniedrigung, welche Schmach würde es sein, vor den Großherzog zu treten und ihm von ihrem Versagen zu berichten? Hope raufte ihre Haare in kalter Furcht des Kommenden, während Angel in lautloses mitfühlendes Jammern ausgebrochen war. Große Gedanken lagen ihr fern – und doch war sie Hopes Schwester.

„Los! Die Gardisten", machte Hope Angel auf den nahenden Trupp aufmerksam, die wohl versuchten, herauszufinden, woher der vermummte Angreifer gekommen war, und Hand in Hand, die Rücken zum Ducken gekrümmt, stoben sie davon. Nur weg, nur weg, auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.

*****

Eine Wut, die alles Menschliche überstieg, die seinen Körper an den Rand einer Schlucht führte, in der ihn Wahnsinn oder Verschleiß erwartete, sprudelte aus einer düsteren Ecke – nicht unwahrscheinlich, dass es eben dieser Abgrund war – hervor, trat aus einem Leck in seinem Herz aus, das Embers Gehen geschlagen hatte, und das Glück des Schweinehundes bestand darin, dass Twinkle sich keines Fünkchens Kraft mehr in seinem starren Körper bewusst war. Hier hatte er ihn vor sich, den Schweinehund, den fiesen Lump, den Teufel, dem er jedes Unglück, dass er Zeit seines Erwachens erfahren musste. Hier hatte er ihn vor sich den Schweinehund. Fieser Lump! Teufel!

Eine Welle der Ermattung spülte Twinkle von seinem persönlichem Abgrund fort, hinein in eine tiefe Ohnmacht, eine ferne Welt, in der aller Schmerz nur noch ein stumpfes Pochen in seinem Kopf war, in der er die Momente, derer man ihm nicht beraubt hatte, ein weiteres Mal durchlebte. Ein weiteres Mal durchlebte, bis er aus der Ohnmacht in einen seichten Schlaf glitt, wie aus einem tiefen Bergbauschacht in den Keller eines recht guten Hauses. Und es war diese Art von seichten Schläfen, die empfänglich macht; empfänglich für Visionen und Träume der Zukunft. Auf das sie ein klein wenig ungewisser werde.

*****

Dr. Hatchet beugte sich über den vorderen der beiden Leichname, die jeweils auf rollbaren Betten in dem kleinen, und doch recht geräumigen Krematorium lagen, dass sich in einem Nebengebäude des Krankenhauses Tiënje'ts befand.

Der Arzt sah Tiën an und begann nach einem Moment zu sprechen, obwohl er wusste, dass der König nichts von Obduktionsberichten hielt, ja geradezu eine Abneigung gegen sie entwickelt hatte: „Ein Stich mit einem stumpfen Brotmesser. Verletzte Trachea und linken Lungenflügel. Am Hinterkopf-"

Tiën hob seine Hand, um ihm Schweigen zu gebieten.

„Es geht mir nicht darum, Hatchet. Auch ich kann sehen, dass sie verstorben ist. Hier." Er reichte seinem Vertrauten, ungalant das Thema wechselnd, einen Umschlag. „Den haben Uliir und seine Männer in ihren Kleidern gefunden."

Hatchet entnahm das Papier den zitternden Fingern seines Königs.

„Erkennst du das Siegel?"

Hatchet rückte seine Sehhilfe zurecht und runzelte die Stirn, als er den kleinen gravierten Wachstropfen studierte: „Eine Mauer vor einem zugegeben beachtlichen Schwert, nein, dieses Wappen habe ich Zeit meines Lebens nicht gesehen."

Tiën schwieg und der Arzt zog eine einzelne Seite aus dem Umschlag. Nachdem er die wenigen Zeilen gelesen hatte, pfiff er leise durch die Zähne: „Mein Gott."

Eine Prise SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt