Mein persönlicher Verfolger -4-

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Jahr 1 nach der Ruhe

Unfähig zu schlafen oder zu rasten, zog ich weiter. Zu sehr hatte mich die Geschichte des Mondes aufgewühlt. Und in mir war eine Frage aufgewirbelt worden: Wer war der böse in diesem Krieg? Bisher hatte ich angenommen, die Nacht wäre der Feind, das Monster, das unendlich Böse, doch der Mond hatte anderes erzählt (Wohlgemerkt dass er der Nacht verpflichtet war) und ich nahm mir vor, mit der Sonne zu sprechen. Danach würde ich mir immer noch eine Meinung bilden können. So lief ich weiter und die Zeit verrann, wie der Sand, der nach der Zeit der Ruhe alles wie einen dicken Teppich bedeckte. Und auch wenn sie hinter mir herliefen, einholen konnten sie mich nicht, die Minuten und Sekunden, diese Diener der Zeit. Elendes Pack. Immerhin, sie waren mir dicht auf den Fersen, das wusste ich, aber ich konnte nicht zurück blicken, wie sehr die Versuchung mich auch drängte. Die Angst siegte. Vor langer Zeit hatte man mir gesagt, die Vergangenheit sei immer nur so fern, wie man sie von sich abhielte. Meine Vergangenheit verfolgte mich und wenn ich der Versuchung erläge, würde sie mich zurückholen in die trostlose Welt der Ruhe. Nicht dass es hier nicht trostlos wäre, nicht dass ich hier nicht das Gefühl hätte unerwünscht zu sein (was unterscheidet diese Welt überhaupt noch von der, der Ruhe, bis auf den Fakt, dass es wieder Tage gibt und die Sonne wieder aufgeht), aber von meiner Vergangenheit wollte ich mich trotzdem nicht einholen lassen. Nicht diesmal. Ich erhöhte mein Tempo mit der Ungewissheit, wie lang ich diesem physischen Druck standhalten könne. Die Minuten flogen nun nur so an mir vorbei. Eine ums andere überholte ich die in gerader Reihe Laufenden. Ich konnte es erkennen. Die Zeit, ich konnte sie sehen, ihren Aufbau betrachten. Eine Minute lief vor der Anderen, und wenn ich hinter mich geblickt hätte, hätte ich das gleiche Schauspiel gesehen. Es war so nahe liegend und nie war vor mir jemand auf diese Idee gekommen, (zugegeben, dass ist absurd, aber...) doch wozu brauche ich die Zeit, wo sie mich doch nur an meinem Entkommen hindert? Während die Ruhe geherrscht hatte, hatte auch sie sich ergeben müssen (was erklärte warum ich nicht gealtert war), aber in diesem Moment verhalf sie meinem Kontrahenten. Wie besessen erhöhte ich mein Tempo zu einem Maximum (ich dankte der Zeit, da auch meine Muskeln keine Sekunde gealtert waren) und widersetzte mich ihren Gesetzen. Lahme Sekunden schubste ich aus meinem Weg, schoss an Minuten vorbei und konnte am Horizont bereits die nächste Größenordnung für mich erkennen. Ich tat alles in meiner Macht stehende, um vor meiner Vergangenheit zu fliehen, denn wenn es vollbracht war, könnte ich Kraftlosigkeit und Ermattung, die solch eine körperliche Leistung mit sich brachte, mühelos einstecken. Das war es mir Wert. Weiter ging es, ich sah wie Minuten, in ihren grauen Röcken, begannen auf zu geben. Sie senkten die Köpfchen vor Schmach, während ich ihre, ansonsten so beständige, Kraft aushebelte. Ja, ich bin einfach klasse, dachte ich mir und ein Funken Hoffnung durchdrang die dichten Wolken, der Melancholie, die dichten Wolken der Melancholie gleich über mir schwebten. Was für eine treffende Beschreibung. Und als ich endlich sicher war, meinen Verfolger abgehängt zu haben, verpasste er mir einen Hieb und holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. „Deiner Vergangenheit kannst du nicht entkommen", hörte ich sie sagen. Der Boden der Tatsachen war entschieden zu hart und roch nach Irrtum und einer Prise Schicksal. Ich kannte diesen Geruch noch allzu gut aus der Zeit der Ruhe, denn es war der Geruch, der die Götter umgab. Für einen Moment blieb ich regungslos liegen. Erst dann fand ich die Kraft aufzustehen und zurückzublicken. Ich fand sie in meiner rechten Hosentasche zwischen einem zerdrückten Marshmallow und einer halbantiken Tonscherbe, in die eine Zahlenreihe eingeritzt war. 1682273. Ich blickte zurück. Soll die Vergangenheit mich doch holen, dachte ich erregt. Der Wald, in dem ich mit der Diestel und dem Pilz gesprochen hatte und in dessen Nähe der Kohlenbaum mit meinem Nachschub gewesen war, war am Horizont verschwunden und einem schroffen Sandsteingebirge zu meiner beiden Seiten gewichen. Am Hang des ersten besonders ausladenden Bergs, der mit seinen garstigen Umrissen geradezu unwirtlich aussah, standen drei Schatten, widerstehend dem Licht, der aufgehenden Sonne. Sie hatten etwas düster Anmutiges an sich und beobachteten mich. Das Licht allerdings erinnerte mich daran, dass es Tag war. Und wenigstens hier schien der Mond die Wahrheit gesagt zu haben, denn die Morgenröte war tatsächlich ausgeblieben. Der Tag wurde eben schon immer bevorzugt. Auch damit hast du Recht gehabt, aber wer sagt schon Monduntergang, oder Mondaufgang? Ich bestimmt nicht. Die Sonne war nun vollkommen aufgegangen und schien auf die ihr zu Füßen – oder zu Strahlen? – liegende Welt. Unbeweglich standen die drei Schatten da und trotzdem hatte ich das Gefühl, sie würden näher gekommen sein. Mit einem Kopfschütteln schickte ich die ankommenden Zweifel davon und setzte mich an den Stamm eines freundlichen Baumes. Nun wollte ich meinen Plan in die Tat umsetzen und die weiteren Auskünfte von der Sonne einholen. „Ich habe mit dem Mond gesprochen!" Einige Vögel sprangen auf, entsetzt durch das animalische Brüllen eines besonders einfältigen Kosmopoliten, wie sie dachten, und flatterten durch die Luft. Die kalte schneidende Stimme ließ mich zusammenzucken. „Ich bin nicht taub. Mensch", das letzte Wort spuckte sie nur so aus und auch die letzten Flügler, die sich von meinem Rufen nicht hatten stören lassen, aus ihren Bauten und schworen sich dem nächsten Menschen, denen sie begegneten, das Leben zu versauen.

Eine Prise SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt