Das Dorf der Verbannten -20-

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Jahr 30 nach der Ruhe

„Seht nur", rief Stone, seine Stimme bebte vor Erregung: „Eine Stadt!"

Ember jauchzte, als auch sie die Mauer und die vielen kleinen Häuschen erblickte, und viel ihrem Bruder stürmisch in die Arme. Die Reaktion ihrer beiden Begleiter fiel weniger euphorisch aus. Twinkle warf einen seiner misstrauischen Blicke –sein Vorrat war bereits zur Hälfte aufgebraucht- zu den gedrungenen ineinander verschachtelten grauen Klotzen, die weiß Gott wer in diese Ebene gekleckert haben musste. Über der Szenerie lag ein Nimbus des Grauens, was nur noch von der wuchtigen Mauer verstärkt werden konnte, die sich einem riesigen Wurm gleich um das vor sich hin siechende Dörfchen schlängelte. Ihn durchlief ein Schauer, als der Blick sein Ziel erreichte; diese Stadt war ein schlechtes Omen.

Unterdessen war das Geschwisterpaar bereits weiter gelaufen und traten ein in das Feld goldener Ären, dass, wie Awe es sah, die Stadt schmückte, wie goldene Intarsien ein Grab. Auch er fühlte die Bedrohung, die von dem hässlichen Unort ausging. Dennoch folgten er und Twinkle ihren Gefährten und sahen sich alsbald umringt von Feldarbeitern. Menschen! Ember stieß ein gefühlvolles Juchhe aus und lief, die misstrauischen Blicke der Bauern ignorierend, auf den Erstbesten zu, um ihn in bester Unmanier zu umarmen und herzlichst zu zerdrücken. Der Riese, den sie sich dazu ausgesucht hatte, trug einen grotesken Strohhut, in den dünne rötliche Fäden eingearbeitet waren.

Eigentlich, das musste Twinkle zugeben, entsprach der Hut sogar weitestgehend der Norm, grotesk hingegen war das Zwinkern, das der Riese ihm über Embers Rücken mit einer Selbstverständlichkeit zuwarf, die ihn mehr, als missfiel.

Sachte bog der Riese Embers Finger auf, um sich ihrer Freundschaftlichkeit zu entziehen.

„Ich", er deutete auf sich, als redete er mit einer Horde Dummen: „Bin Saîu." Nach einer Pause, in der die vier Zeit hatten, seine Worte zu verstehen, fuhr er fort: „Wir hatten euch früher erwartet. Ein Jammer, dass ihr das Festmahl verpasst habt."

Von den Bauern vernahm man verhaltenes Lachen. Es klang mehr als erzwungen und an ihren billigen Kleidern und den prachtvollen Ringen, die sie nicht besaßen, war deutlich zu erkennen, wer Bessergestellte unter ihnen war.

Keiner der Reisenden wusste, was zu tun oder zu sagen, doch Saîu überspielte ihre peinliche Situation mit einem eingeprobteren Lachen. Er breitete die Arme aus: „Nun kommt schon. Wir alle haben so viel von euch gehört. Ich selbst zähle mich zu euren größten Fans", er lachte erneut: „Erlaubt mir, euch in Slòtgar' willkommen zu heißen. Die Stadt der Außergewöhnlichen und Besonderen –zu Weilen auch Absonderlichen- erwartet euch."

Ohne tatsächlich auf ihre Erlaubnis zu warten, stiefelte Saîu mit monsterhaften Schritten los, wobei er auf magische Weise den Weg durch das dichte Feld, das jede Sichtmöglichkeit unterband, fand. Awe warf Twinkle einen Blick zu: beide misstrauten dem überfreundlichen Übergroßen.

Wenig später bereits erreichten sie das riesige Tor der Mauer. Links und rechts standen jeweils vier Wächter in Uniformen, dazu patrouillierten noch zwei von einer Seite zur anderen.

„Das sind die Gardisten", erklärte Saîu langsam und betont: „Sie agieren als Aufpasser, Kämpfer und Gesetzeshüter zugleich." An die Wächter gewandt fügte er hinzu: „Lasset mich und meine vier Begleiter eintreten."

„Vier, mein Herr?", hakte einer der Wächter nach und Saîu zog die Gefährten ein wenig näher, damit der Fragende sie in Augenschein nehmen konnte. „Du verstandst recht, es sind vier in der Zahl", sagte er und Awe glaubte einen genervten Unterton in seiner Stimme zu vernehmen, der allerdings sofort wieder schwand, als er sie durch das sich öffnende Gittertor lotste: „Auf, auf, meine Freunde", rief der Riese vergnügt, der zumindest ein Ehrenmann, wenn nicht Adliger, war.

Eine Prise SchicksalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt