Ein alter Freund mit ähnlichem Schicksal

435 30 1
                                    

 Mir erschien Alles auf einmal in Zeitlupe. Ich fiel tief. Unendlich tief. Ich drehte mich einige Male. Doch nur ganz langsam. Plötzlich kam Alles wieder. Mein Traum. Genauso war es auch in meinem Traum gewesen. Doch ich konnte mich nicht daran erinnern, wie es weiterging. Ein dumpfer Aufprall löschte all meine Gedanken. 

Ich lag immer noch am Boden. Der Pfeil in meinem Bein, das verklebte Blut, das mit Dreck und Sand eine braunrote Masse war. Der Schmerz in meinem Fuß und der Gedanke, dass ich sterben würde war wie vorher. Ich wollte nicht sterben. Ich konnte nicht weinen. Meine Augen waren wie der Boden auf dem ich lag- staubtrocken. Ich lag in dem Loch. Ein verdammt tiefes Loch. Ich wollte aufstehen. Doch mein Rücken schmerzte. Ich muss auf den Rücken gefallen sein. Aber warum bin ich nicht einfach gestorben? Warum musste ich diese Qualen durchstehen. Ich stürzte auf die Seite und röchelte, um genug Sauerstoff zu bekommen. Meine Zunge hing heraus. Zwischen langen scharfen Zähnen. „Ich bin eine Bestie“, durchzuckte es meinen Körper. Ich schaute nach oben. Nach draußen. Der Mond. Er lachte. Er lachte mich aus. Je länger ich hinsah, umso mehr erkannte ich, dass es nicht der Mond war. Es ist ein Dorfbewohner. „Es ist tot!“, schrie er. Er, mein Vater. Er weiß nicht wer ich bin. Sie verließen das Loch. Vater, verlasse mich nicht. Bitte Vater, ich bin es. Sie sind weg. Meine Hand. Nein, meine Tatze. Sie leuchtete leicht. Eine Form wurde sichtbar. Ein Abdruck. Ein Pfotenabdruck.

„Kira.“

Eine bekannte Stimme erfüllte den Raum und ich zuckte zusammen. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in einem flachen Gewässer lag. Mühsam versuchte ich den Kopf zu heben. Doch es wollte einfach nicht gelingen.

„Kira, bleib still. Ich helfe dir.“

Die Stimme beruhigte mich ein wenig. Geduldig wartete ich auf die Hilfe, aber es kam nichts.

„Jetzt bilde ich mir schon Stimmen ein. Warum bin ich nicht einfach gestorben?“, meine Gedanken waren unkontrollierbar.

„Hebe deinen Kopf“, sagte die kecke Männerstimme.

Ohne Mühe konnte ich ihn heben. Meine Schmerzen waren verschwunden. Meine Wunde verheilt. Erstaunt blickte ich mich um. Diese Art Erdhöhle war dunkel. Ich konnte nichts sehen. Um mich herum war ein Lichtkreis vom Mond. Auf einmal erinnerte ich mich an mein Gespür und setzte es ein. Tatsächlich konnte ich fast den ganzen Raum sehen. Wenige Schritte vor mir stand eine Person. Ich traute meinen Augen nicht, als ich Lester vor mir stehen sah. Mein Kiefer klappte runter und ich muss ziemlich dämlich ausgesehen haben, denn sonst hätte Lester nicht so gelacht. Aber statt in das Gesicht eines alten Herren zu sehen, schaute ich in ein wunderhübsches Gesicht eines jungen Mannes. Merkwürdigerweise wusste ich aber sofort, dass es Lester war. Vielleicht lag es an seinem Geruch, der erst jetzt besonders stark wurde oder ich wusste es einfach. Weil ich es gesprüt habe, als ich ihn sah. 

„Lester. Was ist passiert? Warum bist du…“, mir blieben die Worte im Halse stecken. Lester kam näher und streichelte mir über den Kopf. Mittlerweile war ich aufgestanden und reichte ihm bis zum Hals. Er schaute mich tiefgründig an und legte seine Hand auf die Stelle meiner Brust, an der sich mein Herz befand. Lester schloss die Augen und atmete gleichmäßig, während ich aufgedreht auf seinen Arm linste.

„Okay, Wolfgunde“, er zwinkerte mir zu „Vielleicht verstehst du jetzt, was der Name auf sich hat. Ich wusste schon bei deiner Geburt, dass du tief im Herzen ein Wolf bist. Aber du bist kein gewöhnlicher Wolf. Du bist die langersehnte Heldin, die Tyrollus und unser Dorf jetzt braucht. Du wurdest persönlich von meinem Vater auserwählt. Doch weder ich, noch mein Vater sind für deine Verwandlung verantwortlich. Daran ist Diltya beteiligt. Sprich mit ihr, wenn du sie siehst. Sie wird dir Einiges zu erzählen haben. Wenn man genauer hinsieht, ist deine Fellzeichnung anders. Du bist nur zum Teil mit der Schattenwelt verbunden, damit du diese betreten kannst, ohne dich in einen Geist zu verwandeln. Doch als Mensch kannst du nicht in ein Gebiet gehen, wo es Schattennebel gibt. Dein Körper wandelt sich sofort. Dagegen kannst du nichts tun. Du schaffst Alles. Hier.“

Er holte etwas Kleines aus seiner Tasche. Ich stand dagegen noch vollkommen verwundert da und wusste nicht, was ich denken sollte. Lester zeigte mir meine Ohrringe. Ich war überglücklich als ich sie sah. Mein Schweif spielte verrückt. Er tastete mein Ohr ab und schmunzelte, als hätte er gefunden, was er gesucht hatte. Als er fertig war schaute ich ins Wasser, damit ich mich sehen konnte. Er hatte mir meine Ohrringe in meine nochvorhandenen Ohrlöcher gemacht. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ein schönes Muster im Gesicht hatte. „Die hast du verloren.“

„Lester! Danke! Nur sag mir, wo ich jetzt hinmuss. Wie komme ich hier wieder raus? Ich bin noch ziemlich durcheinander. Ich…“,weiter kam ich nicht.

„Schhht!“, machte Lester und schloss erneut die Augen.

Einen kurzen Augenblick später starrte er mich an.

„Focko ist auch durcheinander. Dein Verschwinden hat etwas Schlimmes in ihm ausgelöst. Er wollte dich nicht verraten. Aber auch nur deshalb nicht, weil er in deinen Augen deine Augen gesehen hat. Er macht sich darüber große Gedanken. Du kannst aber nicht nach Finor zurückkehren. Genauso wenig wie ich. Ich werde wieder altern, sobald die Schattenwelt von unserer Welt wieder getrennt ist. Und das ist auch gut so. Wir werden uns öfters wiedersehen. Wir treffen uns an der Quelle der Finorie. Bis später.“ Ich wollte ihn fragen, wo ich jetzt hinmusste, doch er verwandelte sich in einen Falken uns flog aus dem Loch fort.  Lange stand ich da und sah zu dem Loch hoch. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte. Lester war also tief im Herzen ein Falke. Ich war verwirrt, doch musste ich einen Weg hinaus finden. Ich lief im Kreis, denn der Raum hatte keinen Ausgang. Der Mond stand nun direkt über dem Loch. Es war Vollmond und ich hatte dieses schreckliche Verlangen, zu heulen. Ich setzte mich in das Wasser und legte den Kopf in den Nacken. Meine Ohren klemmten sich wie von selbst an meinen Kopf. Ich öffnete leicht meine Lippen und heraus kam ein wunderschöner Ton. Ich heulte verschiedene Töne. Es war eine ungeheuer starke Kraft, die mich dazu veranlagte, diese Töne zu heulen. Meine Augen waren fest geschlossen. Erst als ich fertig war, beruhigte sich mein Körper. Stolz schaute ich zum Mond. Doch im nächsten Augenblick bereute ich es, geheult zu haben. Was ist, wenn die Männer mich gehört hatten und zurückkommen werden. Kaum hatte ich diesen Gedankengang beendet, stand eine Gestalt an dem Loch und sah auf mich herab. Aus Reflex bleckte ich die Zähne, was ich vorher noch nie gemacht habe. Ich konnte aufgrund des Lichts des Mondes nichts bis auf die Silhouette erkennen. Ich hatte nur noch Angst, denn jetzt würde mein Ende kommen.

WolfsblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt