Die Flucht

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Ich ging noch etwas tiefer und wollte meinen Körper hochschnellen lassen, doch ich konnte nicht. Diltyas Mundwinkel zogen sich nach unten. „Versuch es noch einmal“, zischte sie durch ihre Zähne und verschränkte ihre Arme. Ich setze wiederholt zum Sprung an. Ich schloss die Augen und in meinem Kopf lief eine Melodie. Sie kam mir bekannt vor. Ich stand in der Hocke und lauschte der Melodie. Plötzlich wusste ich es. Ich riss die Augen auf. Diese Melodie hatte meine Mutter mir immer zum Einschlafen vorgesummt. Ich schloss die Augen noch einmal. Meine Hinterbeine hatten auf einmal eine gewaltige Kraft entwickelt, die Melodie spielte immer lauter weiter, bis ich endlich zitterte. Ich ließ meine Hinterbeine das tun, was sie wollten. Und dann flog ich durch die Luft. Doch je länger ich überlegte, fiel mir auf, dass ich gesprungen war. Ehe ich wieder klaren Kopf finden konnte, krachte ich mit voller Geschwindigkeit auf den Brocken. Ich rutschte fast zu weit und wäre in die endlose Tiefe gefallen, wenn ich meine Krallen beim Auftreffen nicht in den Felsen gehauen hätte. Diltya jubelte mir zu, doch es klang viel leiser. Ich schaute hinab. Sie befand sich drei Blöcke unter mir. "Super! Und weiter!" schrie sie. Der Boden unter meinen Pfoten wackelte etwas. Als ich hinab sah, bemerkte ich, dass der Stein langsam in seine Einzelteile zu zerbrechen drohte. Ich fixierte meinen Blick zum übernächsten Brocken, da der nächste schon kaputt war und sprang. Wieder flog ich durch die Luft und krachte auf den Brocken. Doch auch dieser Brocken ließ unter meinem Gewicht nach. Ich drohte erneut hinabzustürzen. Hilfesuchend schnellten meine Blicke in alle Richtungen, doch Diltya war nicht aufzufinden. Ich roch sie aber, das hieß, dass sie hier war. Ich merkte, wie mein Hinterbein wegrutschte. In letzter Sekunde nutzte ich die letzte Kraft meiner Beine und schaffte es gerade noch auf eine feste Fläche auf der Diltya schon wartete. Ich lauschte und hörte wie der Block in tausenden Stücken ins tiefe Wasser fielen. Ich schüttelte mich und mein Herz hämmerte. Meine Beine zitterten. Ein Schnauben entwich aus meinen Nasenflügeln. Diltya öffnete eine große Holztür. Vorsichtig glitten meine Pfoten über den steinernen Boden. Ich sah nichts weiter als ein ellenlanges Dach, große schwarze Wolken und riesige Vögel, die sehr gefährlich aussahen. „Also, das hier ist das Schloss Tyrollus. Du warst schon mal hier. Es ist lange her, aber es hat sich verändert. Als du niedergeschlagen wurdest, ab da fing es an. Alles veränderte sich“, sie biss sich auf die Lippe, „Schuld daran ist nur Jared. Jared ist…“, sie zögerte, „der Herrscher der Schattenwelt. Er hat alles Licht der Welt genommen, um seine eigene Kraft zu stärken. Wir müssen ihn aufhalten, Kira. Ihn vernichten. Nur so können wir dein Dorf und Tyrollus retten“, aufmerksam hörte ich ihr zu, während ich starr nach draußen schaute „Doch wir schaffen es nicht so. Meine Kraft reicht nicht um ihn zur Strecke zu bringen. Und deine erstrecht nicht. Zumindest nicht jetzt." Ich sah sie an. "Ich brauche die Schattenrüstung. So Hundilein, denk dran, töte alles Böse. Hab kein schlechtes Gewissen. Spiel mit deinen Trieben."  Sie schwebte langsam auf meinen Rücke und hielt sich mit ihren kleinen Händen in meinem dichten Nackenfell fest. Schritt für Schritt trabte ich hinaus. Als ob es an mir liegen würde, fing es plötzlich an zu regnen. So stark, dass ich nichts mehr sah. Ich konnte gerade mal meine Pfoten sehen. Ich ging noch langsamer als ich eh schon lief. Der Regen schien mich vom Dach schubsen zu wollen. „Ducken!“, schrie Diltya. Ich gehorchte sofort. Ein großes Ding flog über mich mit einem Schrei hinweg. „Wenn du so unvorsichtig weiterläufst, enden wir noch als Vogelfutter. Also schalt dein Gespür ein. Was für ein Wolf bist du denn bitte.“ „Was für ein Wolf ich bin? Nun hör mal, ich bin gerade mal 20 Minuten lang ein Wolf, also mach mir keine Vorwürfe“! dachte ich wütend während ich mich, immer noch in der Hocke, nach vorne schlich, um mich zu verstecken. „Du bist seit mehreren Tagen ein Wolf. Nur hast du geschlafen wie ein Murmeltier“, antwortete sie mir auf meine Frage, die ich allerdings nur gedacht habe. Ich schauderte. Konnte sie jetzt auch schon meine Gedanken lesen? Kannst du meine Gedanken lesen, oder was? ich hatte einen Schornstein erreicht, um mich zu verstecken. "Nur wenn du quasi mit mir „denkst“. Also du hast gerade gedacht, als würdest du mit mir sprechen. Also pass auf, was du denkst“, sie lachte leicht. „Das heißt also, ich kann mit dir sprechen? Das ist praktisch. Aber nur du kannst mich verstehen, oder?“ „Nein, nein. So ist es nicht. Alle Tiere können dich verstehen. Menschen allerdings nicht. Na ja, sehen können sie dich im Moment ja auch nicht“, diesmal gluckste sie fröhlich. „Wie meinst du das? Warum können sie mich nicht sehen? Sind wir etwa Geister?“ „Nein, andersherum. Wenn das Licht fehlt, sind die Menschen Geister. Sie wissen nichts davon. Sie wissen noch nicht einmal, dass es gar kein Licht mehr gibt. Also, Licht gibt es schon. Aber nicht das heilige Licht, das für die Menschen notwendig ist. Du weißt schon, das Licht der Lichtgeister.“ Ich kam nicht ganz mit, verstand aber das Wesentliche. „Du siehst in deinem jetzigen Zustand auch nur Lichter. Du kannst die Menschen aber nur sehen, wenn du dein Gespür einschaltest. Du wirst selbst lernen, wie du das machst. Zwar hast du dann nur eine begrenzte Sichtweise, aber du kannst sie sehen. Aber ich glaube, du siehst im Moment gar nicht, kann das sein?“ „Ja. Ich sehe nichts. Wie geht das mit dem Gespür? Muss ich da was Bestimmtes machen?“ Ich war ganz aufgeregt, schließlich war ich noch nie ein Wolf und wusste erst recht gar nicht, dass die Tiere ein Gespür haben. „Nun mal langsam, Kleines. Du hörst wieder nur halb zu. Ich sagte, das wirst du dir selbst erlernen müssen. Schließlich bin ich kein Tier, oder? Wenn du ein Gespür entwickelt hast, kannst du Alles in deiner Umgebung sehen. Allerdings hast du nur eine begrenzte Sicht. Deswegen musst du einfach selbst einschätzen, wann du mit deinem Gespür arbeitest. Manchmal kommst du besser, wenn du dein Gespür nicht gerade parat hast. Also pass immer gut auf. Deine Ohren sind ja gut genug“, sie erklärte leise. Ich nickte. Ich versuchte, mein Gespür aufzurufen, doch es klappte einfach nicht. „Konzentriere dich. Du musst nur für einen kurzen Augenblick hochkonzentriert sein und schon hast du es. Also streng dich an und pass auf, dass du dein Gespür nicht einfach verschwinden lässt, wenn es wichtig ist. Es könnte dein Leben kosten.“ Ich konzentrierte mich. Und ehe ich mich versehen habe, konnte ich alles scharf sehen. Ich jaulte vor Freude ganz leise auf. Ich freute mich. Doch ich musste aufpassen, ich sah die Vögel nicht mehr. Ich konnte sie nur sehen, wenn sie nah genug bei mir waren. Durch mein Gespür waren mein Gehör und mein Geruchssinn gestärkt. Ich fühlte mich richtig stark. Fast unbesiegbar. „Scheint, als hättest du es geschafft. Glückwunsch. Wäre schön, wenn du diesen miesen Viechern jetzt mal ein Ende setzten könntest, sonst kommen wir nie zum Burgturm. Wenn wir da nicht hinkommen, kommen wir nie aus Tyrollus raus. Also Beeilung!“ Sie sprach schnell und leise. Ich stand auf und sprang ohne Einfluss darauf in die Luft. Ich wusste nicht, was jetzt gerade geschah. Vor Schreck wollte ich schreien, brachte aber nur ein heiseres Bellen heraus. Doch das schien mich gerettet zu haben. Denn aus Zufall erwischte ich, als ich meinen Mund ruckartig schließen wollte, einen dieser Vögel und schlug ihn ohne Absicht auf das Dach. Ein Schrei ertönte. Kurz darauf zersprang das Schattenwesen in lila-schwarze Quadrate.

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