Er hält mich nicht auf, als ich davonlaufe. Die Southside kommt mir wieder vor wie der Ort meiner Kindheit. Ein vergifteter Ort. Verlogen, düster, entsetzlich einsam. Ich bin wieder das kleine verängstigte Kind, das ich so oft gewesen bin. Ich suche verzweifelt nach einem Ziel, einem Punkt, an dem ich ankommen kann, aber Sweet Peas ausdrucksloses Gesicht verfolgt mich. Ich habe dich nicht darum gebeten. Das hat er nicht. Er hat mich darum gebeten, es nicht zu tun. Mich nicht auf Penny einzulassen. Aber ich dachte, er wäre mir dankbar. Oder würde sich zumindest freuen, mich wiederzusehen. Frei zu sein. Meine Enttäuschung wandelt sich in Wut. Seit wann lässt er sich von FP sagen, was er zu tun hat? Seit wann hat irgendjemand diese Macht über ihn? Er hat sich immer gegen jeden aufgelehnt, der meinte, zu wissen, was das Beste für ihn ist. So ist er. Und das habe ich immer geliebt. Als ich jünger war, dachte ich immer, er wisse genau, was er will. Er zweifelte nie, wankte nicht, wirkte nie, als kenne er den Weg nicht. Vielleicht habe ich mich getäuscht. In ihm. In unserer Beziehung.
Ich hole meinen Wagen und mache eine Spritztour auf die Northside. Die Durchschnittsvorgärten, Pastellhäuschen und Jungs in Collegejacken wirken seltsam beruhigend. Ich stelle mir vor, ich wäre immer eine von ihnen gewesen. Die Adoptivtochter von Hiram und Hermoine Lodge. Ich wüsste über die Southside nur, was sich erzählt wird. Und ich wäre mit Sicherheit nie auf die Idee gekommen, einen Fuß auf die andere Seite der Schienen zu setzen. Vielleicht wäre ich Cheerleaderin geworden und hätte mich mit Veronica über Klamotten und Jungs gestritten. Jug und ich wären möglicherweise trotzdem Freunde geworden, aber ich hätte nie gewusst, was mir fehlt, hätten wir uns nicht kennengelernt. Der große Lazlo würde noch leben und in Schreckensherrschaft regieren, während ich mit Betty Milchshakes trinken und über Archie tratschen würde. Ob FP sich je bei mir gemeldet hätte? Sich als mein Vater zu erkennen gegeben hätte? Er hätte mir mein Leben nicht kaputt machen wollen. Das einzige, in dem ich mir sicher bin, ist, dass ich, wäre ich Sweet Pea über den Weg gelaufen, dass selbe für ihn empfunden hätte wie in diesem Leben. Schicksal. Unsere Wege hätten sich so oder so irgendwann gekreuzt. Das unschuldige Northside-Mädchen mit Abschlussballdates und Blümchengestecken am Handgelenk verlieben sich in die harten Jungs. Die in Gangs mit Lederjacken auf Motorrädern, die sich nichts gefallen lassen. Die perfekte Liebesgeschichte.
Warum ist sie das jetzt nicht? Sind wir uns zu ähnlich?
Wie selbstverständlich führt mich mein Weg zu Pop's. Ich entschuldige mich für das Desaster meines letzten Besuches, woran mittlerweile nur noch ein paar blassrote Narben auf meiner Handfläche erinnern. Ich bestelle mir einen extragroßen Milchshake, aber schon nach ein paar halbherzigen Zügen am Strohhalm merke ich, dass er mich nicht aufheitern wird. Super. Ich lege meine Beine auf die Bank, lehne meinen Kopf gegen die Fensterscheibe und beobachte die übrigen Gäste. Sie teilen sich Waffeln, erzählen sich totlangweilige Geschichten und zeigen sich ihre neusten Instagram Posts.
„Na? Ganz alleine hier?"
Veronica setzt sich unvermittelt an meinen Tisch. Auf Zickenkrieg habe ich jetzt wirklich keine Lust. Momentan würde ich nicht einmal glaubhaft abstreiten können, dass ich Drogenkurierin geworden bin, um Sweet Pea zu helfen und damit alles nur noch schlimmer gemacht habe. Sie könnten mich verhaften und ich wäre einfach froh, dass mir die Entscheidung abgenommen werden würde, wo ich heute Nacht schlafe.
„Sieht so aus", antworte ich halb abweisend, halb verunsichert. Sie klingt zu freundlich für das, was ich erwarte. Ich habe ihren Freund vom Ball „entführt". An ihrer Stelle wäre ich auch nicht glücklich.
„Siehst ganz schön mitgenommen aus", stellt sie fest. Oh danke. Ist das ihre Art, sich an mir zu rächen? Oder ist das nur ein Austausch von Tatsachen?
„Kann sein", ich bleibe bei meinen knappen Antworten.
„Hat das was mit deinem süßen Serpent zu tun? Ich habe gehört, er sitzt im Knast."
Ich versuche, etwas Negatives in ihrer Tonlage zu finden, aber da ist nichts. Nur ehrliche Anteilnahme.„Er ist heute rausgekommen", seufze ich ergeben, „aber wir sind nicht ... ich weiß nicht, was wir sind."
„Es ist also kompliziert", schlussfolgert Veronica und lehnt sich zurück, „ist das ein Liebeskummer-Milchshake?"Ich lasse meine Finger über das kalte Glas gleiten und nicke.
„Wie wär's, wenn du mit zu mir kommst?"
An sich keine schlechte Idee, aber ich bin davon ausgegangen, dass unser Verhältnis nach dem Einbruch und dem Abend mit Archie schwer gelitten hat. Ich will das aus der Welt schaffen bevor wir einen Mädelsabend machen.„Das mit dem Ball tut mir leid. Archie hat angeboten, mich zu fahren und -"
„Schon gut", winkt Veronica ab, „ich war skeptisch, ja, aber du gehörst jetzt zu unserer Gruppe und muss mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dir vertrauen sollen."
„Oh."
Veronica sieht nicht so aus als hege sie böse Hintergedanken. Und ich bin zu müde, um misstrauisch zu sein. Stattdessen bin ich glücklich darüber, als Teil von etwas angesehen zu werden. Als geschätzter Teil. Es wird Zeit, diese Angewohnheit abzulegen. Und den Milchshake zu bezahlen.Veronicas Eltern freuen sich, mich zu sehen. Auch wenn mir nicht nach Gesellschaft ist, genieße ich das Abendessen, das sie liebenswerterweise aus dem Nichts arrangieren. Oder arrangieren lassen. Mein schlechtes Gewissen frisst mich zwar von innen auf, aber ich gebe mein Bestes es zu ignorieren.
„Mum und Dad lieben dich", lautet Veronicas freudestrahlendes Fazit, als wir in ihren Seidenpyjamas auf ihrem Bett liegen. Am liebsten würde ich jetzt nicht von Liebe reden. Scheinbar habe ich von diesem Thema einfach keine Ahnung.„Ich bin dir wirklich dankbar, dass ich hierbleiben kann", sage ich, „heute Nacht."
„Du kannst gerne länger bleiben", erwidert Veronica und dreht sich auf den Bauch, so dass sie mich ansehen kann, „hier ist genug Platz. Wir könnten dir das Gästezimmer einrichten."
Gleich ein ganzes Zimmer?
„Ich hatte noch nie -"
Ein eigenes Zimmer. Um genau zu sein hatte ich bisher noch nie ein eigenes Bett. Die kurze Zeit bei Archie kam einem normalen Leben am nächsten.
„Dann wird es Zeit!", Veronica ist Feuer und Flamme, „das wird großartig. Ich wollte schon immer eine Schwester haben. Und wenn du Sehnsucht hast, dann statten wir der dunklen Seite einen Besuch ab. Ich trage gerne Leder."
Ich bin überrumpelt. Das Leben über das ich eben noch nachgedacht habe, ist plötzlich zum greifen nahe. Das hier ist wie ein Paralleluniversum. Eine verrückte neue Welt.
„Das Zimmer hat ein angeschlossenes Bad", erzählt Veronica hibbelig, „du hättest also deine Privatsphäre. Und meine Eltern hätten garantiert nichts dagegen. Mum hat es mir schon mehrmals angeboten, aber ich dachte, bei dir und FP würde es jetzt besser laufen."
„Das tut es auch", beeile ich mich zu sagen, „aber ich muss mir den Trailer mit Sweet Pea teilen und das ist ja jetzt ... keine Option mehr."„Das mit euch ist ja ein ziemliches Auf und Ab."
„Ich glaube, ich bin beziehungsunfähig", jetzt rolle ich mich auch auf den Bauch und verschränke die Hände unter meinem Kinn, „ich will immer alles richtig machen, aber bisher hat sich alles als falsch herausgestellt."
Die letzte Aktion wird sich noch als falscher herausstellen, als ich es mir momentan ausmalen kann.
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Die Wahrheit über Greta.
FanfictionGreta Lazlo taucht wieder auf der Southside auf, die sie vor zwei Jahren überstürzt verlassen hat. Die Umstände ihres Auftauchens sind genauso mysteriös wie die plötzlichen Anrufe eines maskierten Killers. Greta versucht, sich ein neues Leben aufzub...