Red Circle

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Ich habe Archie eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen. Als ich nachmittags bei ihm aufschlage, sitzt er im Wohnzimmer und brütet über einem Straßenplan.

"Was machst du?", frage ich skeptisch und setze mich zu ihm. Er reagiert kaum. Blickt nur kurz auf, um sich dann wieder der Skizze zu widmen.

"Archie?"

"Die Jungs und ich machen Jagd auf Black Hood", murmelt er. Ich kneife die Augen zusammen. Hält er das für eine Antwort, mit der ich mich zufriedengebe? Bei mir schrillen sämtliche Alarmglocken.

"Jagd auf Black Hood?", echoe ich, "Jagd? Wie soll das aussehen?"

"Für sowas habe ich jetzt keine Zeit!", fährt er mich an. Ich hasse es, wenn man mir gegenüber die Stimme erhebt. Kindheitstrauma.

Archie rollt den Plan zusammen, steckt ihn in seinen Rucksack, der neben ihm auf dem Boden liegt und erhebt sich.

"Ich muss los. Du kommst ja klar."

"Archie -", setze ich an.

"Hör zu, wir kennen uns nicht. Es ist okay, dass du hier wohnst, aber du machst deine Sache und ich mache meine. Okay?"

Ich senke den Blick. Zwecklos, er lässt nicht mit sich reden. Als die Tür hinter ihm zuschlägt, greife ich nachdenklich nach meinem Handy. Vielleicht sollte ich Jug schreiben. Oder Veronica. Irgendjemandem, der zu Archie durchdringt. Aber das würde sein kaum vorhandenes Vertrauen in mich komplett zerstören. Also raffe ich mich auf, ziehe mir bequemere Klamotten an und mache mich auf den Weg, Archie zu folgen. Das ich kein Auto habe macht die Sache schwieriger. In der Garage finde ich ein rostiges Fahrrad. Das wird gehen.


Jagd. Er will Jagd auf ihn machen. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum, während ich durch die malerischen Straßen der Northside fahre. Kaum zu glauben, dass hier ein Killer sein Unwesen treibt. Es ist so ... friedlich. Offenbar bin ich lange unterwegs, denn es wird dunkel und ich stelle zu meinem Unmut fest, dass das Rad kein Licht hat. Andererseits bin ich so besser getarnt. Was will er tun, wenn er Black Hood in die Arme läuft? Ihn verprügeln? Soweit ich informiert bin, hat der Typ eine Waffe und ist gewillt, sie zu benutzen. Das Vibrieren an meiner Hüfte reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Ich bleibe stehen und nehme den Anruf entgegen.

"Was gibts, Jug?"

"Erstens wollte ich mich versichern, dass es dir gut geht und zweitens sichergehen, dass du sowas nicht nochmal machst."

"Habt ihr nichts Besseres zu tun?", erwidere ich schroff. Einige Meter entfernt rollt ein Wagen über die Kreuzung, der Archies, soweit ich das in der Dämmerung beurteilen kann, sehr ähnlich sieht. Ich trete fester in die Pedale.

"Ich habe dich gewarnt. Mehr kann ich nicht für dich tun", sagt Jughead, "joggst du gerade?"

Ich bin ewig nicht mehr einhändig Rad gefahren, aber ich muss am Wagen dranbleiben. Meine Haare fliegen mir ins Gesicht und ich habe Mühe, das Tempo zu halten.

"Nein! Jug, ich kann jetzt nicht telefonieren. Ich habe die Warnung verstanden, keine Sorge. Ich meld mich bei dir."

Schnell beende ich das Gespräch und verstaue das Handy in der Bauchtasche meines Hoodies. Plötzlich bremst der Wagen ab, macht kehrt und fährt die Straße zurück. Ich erkenne nicht, wer am Steuer sitzt und hoffe, ebenfalls unbemerkt geblieben zu sein. Dennoch gebe ich die Verfolgung auf.

Ich bin hellwach, als ich Archie nach Hause kommen höre. Die Treppenstufen quietschen gedämpft. Schnell springe ich aus dem Bett und öffne die Zimmertür. Er verschwindet gerade im Bad. Auch, wenn ich weiß, dass ich ihn nerve, klopfe ich zaghaft an die Tür und atme tief durch, ehe ich etwas sage.

"Archie?", frage ich, "alles okay bei dir?"

Der Wasserhahn wird zugedreht und der Schlüssel im Schloss gedreht. Als er die Tür öffnet, sieht er nicht wütend aus. 

"Hast du auf mich gewartet?"

"Ich habe mir Sorgen gemacht", gebe ich zu, "auch, wenn jeder sein Ding macht."

Ich mache kehrt, um endgültig ins Bett zu gehen und vielleicht einige unruhige Stunden zu schlafen, doch er hält mich auf.

"Ich will einfach niemanden in die Sache mit reinziehen", sagt er, "das ist eine Sache zwischen ihm und mir."

"Ist es nicht", entgegne ich mürrisch, "der Typ ist ein Verrückter, der wahllos Menschen angreift und tötet."

Archie schüttelt den Kopf. Entscheidet sich aber gegen eine Diskussion.

"Du solltest schlafen", sagt er, "siehst müde aus."

Ich bin ja auch stundenlang Rad gefahren um sicherzugehen, dass du lebend nach Hause kommst, du Vollidiot. Ja, ich bin müde.

"Du auch", gebe ich zurück und lasse ihn alleine.

Ich schlafe nicht gut und werde von einer SMS geweckt, die kurz nach vier Uhr eintrudelt. Ein Gruppenchat öffnet sich, als ich den kleinen blinkenden Umschlag antippe. Veronica, Betty, du steht unter dem schlichten Gruppennamen. Rivergirls.

"Habt ihr das schon gesehen?", lautet die erste Nachricht von Veronica. Darunter ein Video. Ich tippe auf play und Archie schaut mir vom kleinen Display aus entgegen. 

Eine Botschaft an Black Hood. Die Jungs, ich tippe auf sein Footballteam, sitzen hinter ihm, bewaffnet mit Baseballschlägern und grimmigen Blicken. Sie sagen ihm den Kampf an. Red Circle. Eine Nachbarschaftswache. Herrgott nochmal, Archie, reiß dich zusammen und konzentrier dich darauf, zu überleben. Du lockt ihn geradezu an mit diesem kindischen Scheiß.

"Oh mein Gott", schreibt Betty. Ich setze mich auf und spähe aus dem Fenster. In ihrem Zimmer wird das Licht eingeschaltet.

"Wusstet ihr was davon?", schreibt Veronica.

"Er war stundenlang unterwegs", antworte ich wahrheitsgemäß. Sie müssen nichts von der Verfolgung wissen.

"Du musst mit ihm reden, V", tippt Betty.

"Morgen. Unterstützt ihr mich?"

Ich kann nicht. Denke ich. Warum habe ich das Gefühl, Archie in den Rücken zu fallen? Weil ich bin wie er. 

"Natürlich!", Betty würde mit Sicherheit am liebsten sofort rüberkommen und eine Intervention durchziehen.

"Klar", schreibe ich. Ich ziehe die Knie an den Bauch und umklammere meine Beine. Eine Nachbarschaftswache. Nette Umschreibung für das, was er wirklich vorhat. Er will ihn töten. Weil Hass blind macht und er nicht weit genug denkt. Weil er das für die einzig richtige Lösung hält. Wie gerne würde ich jetzt Sweet Pea anrufen und ihn bitten, mich abzuholen. Wie früher. Stattdessen sitze ich in Archies Kinderzimmer fest und streiche wieder und wieder über meine Kratzer. Irgendwas MUSS mir doch einfallen. Wie bin ich nach Riverdale gekommen? Und warum? Das letzte, an das ich mich erinnere, ist ein Song, der im Radio lief und der mich nervte. Ich schaltete das Radio aus und an mehr erinnere ich mich nicht. Ziemlich dürftig. Was war das für ein Lied? Irgendein neuer Popsong. Wenn mir wenigstens der Text einfallen würde.

Die Wahrheit über Greta.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt