Erinnerungslücken

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Am nächsten Tag lasse ich das Handy ausgeschaltet unter meinem Kopfkissen liegen. Ich fühle mich wie überfahren, habe Muskelkater in den Oberschenkeln und will niemanden sehen. Geschweige denn mit jemandem sprechen. Ich setze mich an Archies Laptop und öffne YouTube. Wenn ich das Lied finde, erinnere ich mich vielleicht an etwas. An irgendwas. Ich klicke mich durch sämtliche Chartlisten und von Video zu Video. Bitte, bitte, bitte. Als ich auf das mindestens zwanzigste Video klicke, ohne Hoffnung, noch auf das richtige zu stoßen, erklingen die ersten Töne. Und ich kenne sie.

" ... Baby, lay on back and relax
Kick your pretty feet up on my dash .."

„Scheiß Song!", murre ich genervt und drehe die Lautstärke runter. Ich muss pinkeln. Seit einer Stunde stehe ich auf dem dunklen Parkplatz hinter einer Tankstelle, auf die sich nur selten ein Wagen verirrt. Seufzend ziehe ich den Schlüssel aus dem Zündschloss und verlasse den Wagen. Sicherheitshalber nehme ich meinen Rucksack mit. Man kann nie wissen.

Ich fühle mich, als würde mir jemand die Kehle zuschnüren. Hastig klappe ich den Laptop zu und springe auf. Das Kribbeln ist unerträglich und es breitet sich aus. Ich laufe auf und ab, verzweifelt darum bemüht, mich an das Danach zu erinnern. Keine Chance. Dort muss es passiert sein. Was auch immer. Ich muss auf die Southside. Ich muss zu dieser Tankstelle. Ich weiß genau, wo sie ist. Hin und wieder, wenn ich zuhause raus musste, hat FP mich auf seinem Motorrad mitgenommen und wir sind eine Weile durch die Gegend gefahren. Immer, wenn wir zurückkamen, tankten wir dort. Eine heruntergekommene Bruchbude außerhalb von Riverdale. Wahrscheinlich ein Umschlagplatz für Drogen.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als erneut zum Fahrrad zu greifen. Ich muss mein Auto finden. Zwanzig Minuten später radele ich durch Serpents-Territorium. Als ich auf an der Highschool vorbeikomme, klopft mein Herz noch schneller. Es kommt mir vor, als sei es ein anderes Leben gewesen.

„Hey!"

Ein Mädchen löst sich aus einer Gruppe rauchender Jugendlicher und winkt mir zu. Toni. Im Gegensatz zu mir, die es nicht einmal geschafft hat, die Schlafanzughose gegen eine Jeans zu wechseln, sieht sie fantastisch aus. Ich trete auf die Bremse und stelle einen Fuß auf der Bürgersteigkante ab.

„Hey", sage ich, als sie vor mir zum Stehen kommt.

„Hast dus eilig?", fragt sie. Ich zucke mit den Schultern und sehe an ihr vorbei zur Schule.

„Ich muss nur etwas erledigen", sage ich ausweichend.

„Hier?", sie blickt sich um, „auf der Southside?"

„Ja."

„Mit einem Fahrrad?", sie mustert mich skeptisch. 

„Ich habe im Moment nichts anderes", sage ich, „ich bin ja nicht ganz freiwillig hier."

Zumindest nicht unter diesen Umständen.

„Falls du mal ein Motorrad brauchst", sie deutet auf einige Motorräder, die neben der Schule auf einem Parkplatz stehen, „ich leihe dir gerne meins."

Bitte nicht. 

„Danke fürs Angebot. Ich muss wirklich weiter."

Ich will gerade weiterfahren, als mir noch etwas einfällt.

„Toni?", sie dreht sich mit fragendem Gesicht zu mir um, „sag Jughead nicht, dass du mich gesehen hast."

Sie nickt.

Es dauert noch weitere zwanzig Minuten, ehe ich die Tankstelle erreiche. Mit schwitzigen Händen schiebe ich das Fahrrad am graffitibeschmierten Backsteingebäude vorbei auf den kleinen Parkplatz. Ich weiß nicht, warum mir Tränen in die Augen schießen, als ich mein Auto sehe. Sämtliche Scheiben des alten silbernen Imapalas sind eingeschlagen. Kleine Glassplitter glitzern neben den aufgestochenen Reifen. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und nähere mich dem Wagen langsam. 

Die Wahrheit über Greta.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt