Taubheit

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Wie ein rohes Ei werde ich auf Krankenhaustee, Müsliriegel und beruhigendem Oberarmstreicheln gebettet. Sie flüstern, reden eigentlich gar nicht. Tätscheln mir den Rücken, legen mir ihre Jacken um die Schultern. Sie telefonieren ständig, aber ihre Worte dringen nicht in meine Blase vor. Eine Krankenschwester hat mir eine Spritze gegeben. Zur Beruhigung. Sie sagen, ich habe nicht aufgehört, zu schreien, aber ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich an das Fernlicht. Den Asphalt unter meinen Knien. Die kleinen Partikel, die sich durch meine Jeans in meine Knie gebohrt haben. Ich erinnere mich an den Geruch von Blut, der sich um mich herum ausbreitet wie dichter Nebel.
Viele Menschen wuseln um mich herum. Die meisten sind wegen mir hier. Nicht wegen FP.

Hermione bringt mir eine Tasche mit bequemen Klamotten, meiner Zahnbürste und sonstigen notwendigen Kleinigkeiten. Als Betty die Tasche öffnet, um nach einer Jogginghose zu suchen, sehe ich den Zipfel des karierten Hemdes aufblitzen. Ich strecke die Hand aus und greife danach. Ziehe es aus der Tasche und halte es mir an die Nase. Weichspüler. Nur Weichspüler.

So sitze noch so da, als Jug auftaucht und erklärt, dass die OP länger dauert als zuerst angenommen. Er setzt sich neben mich und ich drücke meine Schulter gegen seine. Er hält dagegen. Ich dachte immer, Jug und ich hätten diese Verbindung, weil wir seit ich denken kann die besten Freunde sind, aber das ist es nicht. Wir sind Geschwister. Und das ist eine ganz eigene Ebene. Ein besonderes Band. Er versteht besser als jeder andere in diesem Raum, was in mir vorgeht. Wut und Angst, die sich nicht einigen können, wer die Oberhand gewinnt. Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ungeduld. Sie krabbelt wie tausend Ameisen über meinen Körper.


Betty und Veronica begleiten mich auf die Toilette und helfen mir aus meinen nach Bier stinkenden Klamotten. In dem schwarzen Trainingsanzug, den Veronicas Mum mir besorgt hat, kehre ich zu den anderen zurück. Ich bin müde. Wahnsinnig müde. Sie bringen mir Kaffee, den ich erst trinke, als er eiskalt ist. Sie gehen nicht nach Hause, auch wenn sie immer wieder einschlafen und ständig auf- und abgehen müssen, um wach zu bleiben. Ich würde ihnen gerne sagen, wie viel es mir bedeutet. Das ich froh bin, sie um mich zu haben. Aber ich sage nichts. Ich kann nicht.

Als ein Arzt auf uns zukommt, springt Jug auf. Ich erhebe mich schwerfällig von meinem Stuhl und muss von ihm gestützt werden, damit ich nicht zurückfalle. Ich höre den Arzt meinen Namen sagen, höre, wie er sich vorstellt und uns sein Bedauern für die lange Wartezeit ausdrückt. Ich höre ihn und ich sehe ihn, aber ich würde ihn nach dieser Nacht nie wiedererkennen.

„Die OP ist gut verlaufen und euer Vater ist stabil. Allerdings ist er noch nicht aufgewacht", informiert uns Dr. Owell freundlich, „das könnte in den nächsten Stunden geschehen. Es könnte aber auch wesentlich länger dauern. Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen."

Jughead rauft sich die Haare.

„Können wir zu ihm?", fragt er. Dr. Owell nickt und führt uns in ein Krankenzimmer. Weg von den anderen, die uns besorgt nachblicken. Ich halte Jugs Hand fest umklammert. Wenn er mich loslässt, dann verliere ich mich. Ganz sicher.

„Ich lasse euch jetzt allein."
FP sieht aus, als würde er schlafen. Ein riesiger Verband ist um seinen Kopf gewickelt.

„Hi Dad", Jughead kämpft offenbar mit all den Emotionen, die ohne Schutz auf ihn einprasseln. Ich bin taub. Ist es immer noch die Wirkung der Beruhigungsspritze? Ich habe das Gefühl, abzudriften, aus der Welt zu fallen wie aus einem schiefen Bilderrahmen. Den Mund voller Watte. Ich befinde mich noch immer in meiner Blase. Einer Blase voller Schreie und Blut. Verzerrte Bilder von verschwommenen Rücklichtern, Sirenen in meinem Kopf. Jemand soll sich endlich eine Nadel nehmen und sie zum Platzen bringen. Jemand muss mich aufwecken. Jemand muss dich aufwecken.

„Wir sind hier", versichert Jughead FP, „Greta und ich sind hier. Und wir werden so lange hierbleiben, bis du aufwachst."
Ja, das werden wir. Ich könnte an keinem anderen Ort sein. Ich würde so gerne mit ihm sprechen, aber das einzige, was ich hinkriege, ist, nach seiner Hand zu greifen. Behutsam lege ich meine Finger auf seine und hoffe, dass er es spürt.

„Du wirst wieder gesund. Hast du mich gehört, Dad? Du wirst wieder."

Ich habe doch gerade erst erfahren, dass du mein Vater bist. Ich kann dich jetzt nicht verlieren. Ich will dich jetzt nicht verlieren. Ich will die Zeit nachholen, die wir verloren haben. Ich will der ganzen Welt erzählen, dass du mein Vater bist. Und dass du deinen Job verdammt gut machst. Das will ich. Und das werde ich. Ich habe dich nie „Dad" genannt. Ich dachte, das sei Jughead vorbehalten. Ich will, dass du weißt, dass ich es immer wollte. Das es mir auf der Zunge lag, aber ich zu dumm war, es auszusprechen. Ich war dumm. Ich werde dir das alles eines Tages sagen. Bitte gib mir diese Zeit und wach auf. Bitte.
Unvermittelt nimmt Jug mich in den Arm. Er drückt mich fest an sich. Oder drücke ich ihn? Ich kann spüren, dass er weint. Ich würde dich so gerne trösten. Eine Ewigkeit stehen wir so da.

„Du kannst auch nach Hause gehen und dich ausschlafen", sagt er, als wir uns voneinander lösen, „ich melde mich sofort, wenn es Neuigkeiten gibt."

Wenn du jetzt nicht endlich den Mund aufmachst, wird er Archie bitten, dich nach Hause zu fahren. Willst du das? Du willst doch hierbleiben und darauf warten, dass FP aufwacht. Es kann sich nur um Stunden handeln. Oder?

„Ich kann Sweet Pea anrufen, wenn du ... bei ihm sein willst."

Ich wollte zu ihm. Ich wollte zum Trailerpark, als ich die Party verlassen habe. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen. Ich weiß nicht mal mehr, warum. Ich weiß nur noch, dass ich Sehnsucht nach ihm hatte.

„Willst du hierbleiben?", fragt er prüfend. Ich bringe ein schwaches Nicken zustande.

„Okay. Ich kümmere mich um alles. Warte hier."

Er verlässt den Raum. Das Piepsen der medizinischen Geräte macht mich wahnsinnig. Wahnsinnig. Da ist es wieder. Dieses Wort, vor dem ich mittlerweile mehr Angst habe als vor Black Hood oder Penny. Ich setze mich auf die Bettkante und überlege, was ich ihm erzählen könnte. Aber vielleicht reicht es einfach, wenn ich hier sitze und da bin.


Jug besorgt uns ein Bett, das wir uns teilen müssen und etwas, das man als Abendessen durchgehen lassen kann. Wir kriegen beide kaum einen Bissen herunter. Als wir im Bett liegen und die Decke anstarren, dreht Jug seinen Kopf zu mir und ich spüre seinen Atem.

„Das war Black Hood", sagt er, „ganz sicher."

Die Wahrheit über Greta.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt