5. Kapitel

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"Nun Miss Avery, ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber Ihre Rippe scheint soweit wieder in Ordnung zu sein. Lassen Sie sie mich noch einmal abtasten, um sicherzugehen, dass es auch wirklich verheilt ist."
Der Arzt untersuchte ausführlich meinen Brustkorb. Der Angriff war jetzt beinahe vier Wochen her und der Arzt verblüffte mich mit seiner Aussage. Ich hatte gedacht, dass ich mich noch mindestens zwei Wochen schonen sollte, doch der Arzt war selbst erstaunt und schüttelte nun den Kopf.
"Nun sowohl das Abtasten, als auch das Röntgenbild sagen, dass Ihre Rippe wieder vollkommen in Ordnung ist. Das ist merkwürdig. Sehr merkwürdig sogar."
Es war mir so egal, ob er das merkwürdig fand oder nicht. Ich konnte bald wieder normal leben, wenn mein Bein genauso verheilt war.
"Das Schmerzmittel können wir absetzen, da Sie ja gesagt haben, dass ihnen nur die Rippe wehtat, allerdings weiß ich nicht, ob wir das auch mit dem leichtem Blutverdünner machen sollten. Lassen Sie mich mal ihr Bein ansehen. Wenn es genau so gut abgeheilt ist, wie ihre Rippe, brauchen Sie keine Medikation mehr."
Ich legte mein Bein auf einen Hocker und beobachtete, wie der Arzt sich am Gips zu schaffen machte.
Kaum hatte er mein Bein befreit, schrak ich zurück. Es war in der kurzen Zeit dünner geworden, als besäße es kaum mehr Muskeln.
"Auf den ersten Blick sieht es gut aus.", sagte er.
Nein, es sah gar nichts gut aus. Mein Bein sah aus, als gehörte es einem dieser Magermodels.
Der Doc tastete mein Schienbein ganz genau ab. Nach einer Weile wandte er sich kopfschüttelnd ab.

"Ich gratuliere Ihnen zu ihren ausgezeichneten Selbstheilungskräften. Bei anderen hätte das bis zu zwei Monaten gedauert, oder sogar noch länger."
Er stand auf und ging zu seinem Computer.
"Ich verschreibe Ihnen Physiotherapie. Die sollte dreimal wöchentlich stattfinden, dann können Sie schnell wieder richtig laufen. Das Röntgenbild sparen wir uns jetzt. Ich habe genug gebrochene Beine in meiner Laufbahn behandelt. Ihr Knochen ist verheilt.", sagte er und tippte schnell auf der Tastatur herum. Kurz darauf sprang auch schon der Drucker an und er drückte mir das Rezept in die Hand.
Ich stand auf, mit den Händen auf den Gehilfen abgestützt.
"Ich wünsche ihnen alles Gute, Miss Avery." Damit verschwand er aus dem Behandlungsraum und Emily kam rein.
"Und?"
"Es ist alles verheilt. Ich kann heim." Sie schnappte mir ungläubig das Rezept für die Physiotherapie aus der Hand und las den Zettel durch.
"Das ist doch voll unfair. Ich durfte meinen Gips fast zehn Wochen lang tragen."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Lass uns heim gehen. Ich will nicht länger hier sein als nötig.", sagte ich mit verächtlichen Blick auf die weißen Wände vom Krankenhaus.
Emily nickte und ging hinaus. Ich folgte ihr.

"Ich werde demnächst wieder zu meinen Eltern ziehen. Die drehen schon durch und du kommst ja so gut wie allein klar.", sagte sie, während wir auf der Landstraße entlangfuhren. Ich nickte verstehend. Ihre Eltern wollten sie wieder daheim haben, damit sie sich um ihre kleinen Geschwister kümmern konnte, während die Eltern auf irgendwelchen Festen waren.
Die letzten vier Wochen hatten ausgereicht, um ihrer Familie zu zeigen, wie sehr sie sie eigentlich brauchten.

"Wie lang bleibst du noch?"
"Zwei Tage."
Wir schwiegen den Rest des Weges, bis wir vor meinem Haus stehen blieben. Diese Info war bedrückend und machte mich traurig, nun hatte ich mich daran gewöhnt, früh am Morgen Emily zu wecken und wieder ins Bett zu gehen. Ich nahm meine Gehhilfen.
"Ich gehe ab nächster Woche wieder in die Schule, bis dahin will ich den restlichen Stoff aufholen, den ich verpasst habe.", sagte ich beim Aussteigen.

"Gut, auch, wenn die Lehrer, seitdem du weg bist, an Tempo heruntergeschraubt haben. Sie scheinen nicht zu wollen, dass du zu viel verpasst."
Es war mir auch schon so vorgekommen, normalerweise rasten unsere Lehrer von einer Thematik zur nächsten und kannten überhaupt kein 'langsamer'. Jetzt quälten sie meine Klassenkameraden mit ewig langen Themen und elender Langeweile.

Gemeinsam gingen wir ins Haus und machten uns daran, das Schulzeug zu sortieren und schlussendlich aufzuholen oder, wie in Emilys Fall, den Mist zu lernen.
Am Abend hatte ich dann genug von den Blättern, den Stiften, den Buchstaben und den Zahlen. Ich legte den Stift weg, lief zum Kühlschrank und machte mir ein Brot zurecht.
Emily blickte frustriert zu mir auf.
"Ich kriege diesen Scheiß nicht in meinen Kopf.", erklärte sie und knallte das Buch zu, bevor sie aufstand und selbst zum Kühlschrank ging, um sich etwas zu suchen. Ich zuckte mich den Schultern. Wenn sie es schon nicht lernen konnte, würde es bei mir noch schlechter laufen.
Ich zog das Buch zu mir und öffnete die Seite, in der das Lesezeichen war.

Sofort, als ich die Überschrift sah, klappte ich es wieder zu. Geschichte war nie mein Ding.
Schon gar nicht die Zeit vom 2. Weltkrieg, welche da abgefragt wurde.
Emily berichtete mir, während sie aß, von ihrem Tag in der Schule. Die Jungs hatten mal wieder die Lehrer auf den Arm genommen, indem sie die ganze Kreide versteckt und beim Projektor das Kabel ein bisschen herausgezogen hatten. So verlor die verhasste Englischlehrerin fünfzehn Minuten ihrer ach-so-wertvollen Unterrichtszeit, in dem sie den Hausmeister in den Raum rief, der den Stecker kontrollierte, wieder richtig hineinsteckte und mit bebenden Schultern wieder hinausging. Die Kreide fand die Lehrerin bis zum Ende ihrer Doppelstunde nicht, die, wie sich später herausstellte, die ganze Zeit unter Michaels Tasche versteckt gewesen war. Michael war ein eher ruhiger Typ, der sich zwar auch in das Klassengeschehen mit einmischte, aber nicht allzu auffiel. Deshalb kam auch keiner auf die Idee, dass er etwas mit dem Streich zu tun haben könnte.

Sie berichtete mir auch, dass ein Junge, der ein Jahrgang unter uns war, sie um ein Date gebeten hatte, sie es aber abgelehnt hatte, weil er nicht ihr Typ war.

Emily ging, nachdem sie mir alles berichtet hatte, früh ins Bett, um am nächsten Tag wieder "fit" zu sein. Wir wussten beide, dass ich sie wieder wecken würde, weil sie nicht "fit" war. Ich blieb noch etwas im Wohnzimmer, um meine Schulsachen etwas aufzuarbeiten, als ich es hörte.
Krallen auf Holz.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt