33. Kapitel

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Die nächste Woche verging langsam. Ich verlor alle Kämpfe, die Ryan nachmittags mit mir ausfocht, ob in menschlicher oder in tierischer Gestalt. Immer wenn er mich angriff, konnte ich diese Veränderung in seinen Augen beobachten. Es war, als wären seine Gefühle ausgeschaltet. Das Menschliche verschwand fast vollständig. Sein wölfischer Instinkt schien da die Kontrolle übernommen zu haben. Jedes Mal wenn ich diese Veränderung sah, fühlte ich mich in die Nacht zurückversetzt, in der ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Als er mich gebissen hatte. In diesen Situationen fiel mir Jasminas Warnung wieder ein. Wir waren Tiere, auch wenn es nicht danach aussah. Erst wenn die Kämpfe vorbei waren, kehrte die Menschlichkeit in seinen Blick zurück. Nach jedem Übungskampf machte er sich daran, meine Wunden zu verbinden. Bei jeder Wunde, die er versorgte, lag ein Bedauern in seinen Augen, als ging ihm das, was er getan hatte, zu nah. Seine eigenen Wunden versorgte er nur geringfügig. Als ich ihm angebot, ihm zu helfen, war er mir ausgewichen. Er wollte nicht, dass ich ihm dabei half. Warum, erklärte er mir nicht.

Ich versuchte mir meine Schmerzen, ihm zuliebe, nicht anmerken zu lassen, doch ich hatte das Gefühl, dass er auch ohne Schmerzäußerungen genau wusste, was in mir vorging.
Es war Donnerstag Abend, als er mir die tiefe Bisswunde an meinem Rücken verband.
Zwar waren die Wunden nach höchstens drei Tagen verschwunden, doch irgendwie fühlte es sich an, als wäre mein gesamter Körper inzwischen einbandagiert.

Ich hatte mein Tshirt über den Kopf gezogen und saß auf einem der Stühle, den Kopf auf den Armen abgelegt, während Ryan vorsichtig die Wunde ausspühlte. Ich spürte jede seiner Berührungen überdeutlich, als er mir endlich das riesige Pflaster auf den Rücken klebte. Vorsichtig strichen seine Finger die Ränder entlang, bevor er sich entfernte. Lautlos versuchte ich, die angehaltene Luft wieder auszustoßen.

"Ich glaube, dass wir dieses Training mittlerweile beenden können", sagte er, als ich mir mein Oberteil wieder über den Kopf zog.
"Glaubst du wirklich, dass ich dem Rudel schon entgegentreten kann? Ich habe jeden einzelnen Kampf verloren. Die werden mich zerfleischen." Ich sah zu ihm auf. Er lächelte und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
"Nicht schlimmer, als ich es die ganze Zeit getan habe, falls es soweit kommen sollte. Mittlerweile kämpfst du genau so gut wie Jasmina. Sie verliert auch noch bis heute gegen mich. Außerdem bin ich der Alpha. Es muss ja einen Grund haben, warum ich auf dieser Position bin und nicht irgendein anderes Rudelmitglied." Er grinste leicht, bevor er wieder ernst wurde und mir in die Augen sah.
"Es wird schon werden. Außerdem glaube ich nicht, dass sie sich mit einem Mal auf dich stürzen werden. Okay, Ric eventuell schon, aber der Rest nicht. Sie werden dich erst einmal studieren und ihre Grenzen ertasten. Die richtigen Rangkämpfe kommen erst, wenn sie wissen, wo deine Schwächen liegen. Jasmina wird dir in gewissen Situationen auch noch helfen und solltest du einen Fehler machen, wirst du von mir darauf aufmerksam gemacht."
Also hieß das, dass ich in der ersten Zeit dauerhaft infrage gestellt wurde und, dass ich mir am besten keine Unsicherheiten anmerken lassen sollte. Ich atmete tief durch. Das konnte ja etwas werden.
Leichte Zweifel regten sich in mir, ob ich das alles wirklich schaffen konnte.

"Also, ich gehe jetzt heim und packe meine Sache zusammen. Morgen Abend geht's los. Ich hole dich ab. Und es wäre ratsam, nicht deine beste Kleidung einzupacken," sagte er mit schelmischen Grinsen. Fragend sah ich ihn an, doch er gab keine Antwort und spielte stattdessen mit einer der Verbandsverpackungen.
"Sollte ich noch irgendetwas beachten, wenn ich morgen auf das Rudel treffe?", fragte ich und konnte diesen nervösen Unterton nicht verbergen.
Er runzelte die Stirn und schien einen Moment darüber nachzudenken.
"Es wäre besser, ihnen nichts vorzuspielen. Sei du selbst. Wir spüren Lügen leichter, als du denken kannst."
Ich musste mir überlegen, wie ich es schaffen sollte, die Rudelmitglieder von mir zu überzeugen und gleichzeitig so natürlich wie möglich zu wirken. Vielleicht war das alles ja auch eine Sache in die ich hineinwachsen musste. Ich sah es irgendwie schon vor mir, wie ich untergehen würde.

Ryan stand auf und zog damit wieder meine Aufmerksamkeit auf sich.
"Also dann Neve. Wir sehen uns morgen.", sagte er mit einem Lächeln, das seine Augen nicht ganz erreichte, als er noch einen Blick auf meinen Rücken warf, mit der Verletzung, die nun unsichtbar unter einem Verband und meinem Tshirt lag. Mit einem kaum hörbaren Seufzen setzte er sich in Bewegung, zog seine dünne Jacke über, die er über die Stuhllehne gehangen hatte und verschwand ohne ein weiteres Wort durch die Verandatür nach draußen.

Vorsichtig bewegte ich meine Schultern und stand von dem Stuhl auf.
Ein stechendes Ziehen schoss meine Wirbelsäule entlang, als ich auf den Füßen stand. Oh Himmel, wie sollte ich diese Nacht schlafen? Stoßweise atmete ich aus.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und bewegte mich vorsichtig Richtung Treppe.
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Wütend knurrte ich auf. Die Wut war nicht gegen andere gerichtet, sondern gegen mich selbst. Meine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen.
Ich wusste, dass sie mich nicht sehen konnte. Sie bewegte sich bemüht aufrecht zur Treppe, doch ich wusste, dass ihre Schmerzen sie dazu veranlasst hätten, sich unten auf dem Sofa hinzulegen, wenn sie unterbewusst nicht wissen würde, dass ich sie noch beobachtete.
Sie kroch beinahe die Treppe nach oben in ihr Schlafzimmer. Dorthin, wo ich im Moment am liebsten auch wäre, wie ich mir nun eingestand.
Durch die Kämpfe hatte auch ich Verletzungen davongetragen, doch diese waren bei Weitem nicht so schlimm gewesen. Als hätte sie Hemmungen, mich zu verletzen. Hemmungen, die ich auch haben sollte, doch Jahre des Wolf-seins hatten mich abstumpfen lassen.
Meine Gedanken und Gefühle hatte ich während den Kämpfen bewusst unterdrückt. Hätte ich das nicht getan, wäre sie noch nicht bereit, dem Rudel gegenüber zu treten. Doch das Ergebnis jedes Mal zu sehen, wenn diese Kämpfe endeten, bereitete mir Schuldgefühle.
Selbst mein tierischer Instinkt hasste mich dafür, dass sie nun diese Schmerzen erleiden musste, sei es auch nur für kurze Zeit.
Instinktiv knurrte ich noch einmal auf, als sie aus meinem Blickfeld verschwand.
Sie brauchte länger als sonst, um in das Bad zu gehen und später in ihrem Schlafzimmer zu verschwinden. Selbst bis hierher, an den Waldrand, hörte ich ihr leises Wimmern als sie sich ins Bett legte.

"Hörst du jetzt auf, den besorgten Hund zu spielen und kommst heim?", ertönte es plötzlich hinter mir.
Erschrocken knurrend sprang ich herum.

Meine Schwester starrte mich erwartungsvoll an, doch ein Hauch Belustigung spielte sich in ihrem Gesicht ab. Dann sah sie auf das Haus hinter mir.
Ein warnender Laut entfuhr mir, als sie mir wieder in die Augen sah.
Sie wusste es oder ahnte es zumindest. Das konnte ich in ihrem Blick ablesen.
"Du weisst, was du tust?", fragte sie leise.
Ich nickte nur und folgte ihr tiefer in den Wald.

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt