35. Kapitel.

209 8 0
                                    

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein.
Als ich aufwachte befanden wir uns auf einem Rastplatz mitten im Wald. Kalte Luft strömte durch das halb offene Fenster auf der Fahrerseite ins Wageninnere und ließ mich frösteln. Ich verschaffte mir einen kurzen Überblick. Auf dem Rastplatz war eine kleine Tankstelle mit angrenzendem Toilettenhäuschen. Beides sah aus, als würden sie schon ewig hier stehen. Beide Gebäude brauchten dringend einen neuen Anstrich und bei den alten Dächern würde es mich nicht wundern, wenn die Menschen bei Regen Eimer unterstellen mussten, damit nicht der ganze Laden davonfloss.
Ich war allein im Wagen. Ryan war nirgends zu sehen, aber der Autoschlüssel steckte noch, was bedeutete, dass er nicht lange weg sein würde. Er war entweder auf Toilette oder sich etwas zu trinken kaufen.

Ich löste den Gurt, zog den Schlüssel ab und stieg aus, um meine steifen Glieder zu bewegen und um mal kurz in dem Toilettenhäuschen zu verschwinden.
Ich schloss das Auto ab und ging meiner Wege.
Kein anderes Auto befand sich auf dem Platz.
Es war als wäre hier alles verlassen, wenn die Lichter nicht wären.

Als ich fertig war, lief ich zum Wagen zurück, an dem nun Ryan lehnte. Seine grünen Augen reflektierten das schwächer werdende Licht der Tankstelle.
Leicht schmunzelnd öffnete ich das Auto und wir stiegen wortlos ein.
Als ich saß, legte Ryan mir etwas auf den Schoß, das aussah, wie eine Brötchentüte.
Ich hielt ihm den Schlüssel hin, als er auch saß.
"Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?"
Ich öffnete vorsichtig die Tüte. Tatsächlich befanden sich zwei belegte Brötchen darin, zusammen mit zwei kleinen Getränkeflaschen. Ich vermutete, dass jeweils eines davon Ryan gehörte und das andere mir.
Ich hielt ihm die Tüte hin und er nahm sich eine der beiden Flaschen und ein Brötchen heraus. Dann lehnte er sich zurück.

"Noch eine halbe bis dreiviertel Stunde. Du kannst nochmal die Augen schließen. Ich wecke dich, wenn wir da sind."
Seine Stimme war ruhig und schien mich einzuladen, wieder einzuschlafen, aber etwas hielt mich zurück.

"Erzähl mir vom Rudel," forderte ich ihn auf. Es konnte nicht schaden, etwas mehr zu wissen.
Er kaute schneller, um mir antworten zu können.
Als er dann soweit war, begann er mir den Aufbau zu beschreiben.
"In der Rangfolge bin ich sozusagen die oberste Spitze. Ich führe und schütze das Rudel, teile Aufgaben zu, versuche Konflikte zu klären und noch einiges mehr. Nach mir kommt Nolan. Er ist mein Stellvertreter und zur Zeit etwas mehr in die Angelegenheiten des Rudels involviert. Nach ihm würdest du kommen, da ich aber nun nicht weiß, ob nun Nolan und meine Schwester Gefährten sind, oder nicht, ist das etwas fraglich."
"Warum? Und was bedeutet 'Gefährten'?" Dieses Wort schien bei ihnen eine ganz andere, mächtigere Bedeutung zu haben. Ich überschlug die Beine und beobachtete ihn, wie er sich zurücklehnte und durch das Fenster in die Dunkelheit sah.
Er schien zu überlegen, wie er es am besten formulieren sollte.

"Gefährten sind so etwas, wie eine Empfehlung der Natur, aus welcher Verbindung, die besten Nachkommen hervorgehen würden. Diese Verbindung geht tief in die Instinkte hinein und beeinflusst unser Denken und Handeln. Es ist eurer menschlichen Verliebtheit ähnlich, nur viel stärker. Gefährten sind sehr sensibel für die Gedanken und Gefühle des anderen und können eher darauf reagieren, als das Umfeld, welches noch gar nichts von einem Gefühlsausbruch ahnt."
Er machte eine kurze Pause und ließ mich das kurz verarbeiten.
Sollte ich etwa auch irgendwann so etwas bekommen? Einen Gefährten?
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Wer würde es schon mit mir aushalten? Unruhig sah ich auf meine Hände, welche, wie von allein mit einer Falte meiner Jeans spielten.

Die Jungs in der Schule waren ... naja ... noch Jungs eben. Sie waren mir irgendwie auf irgendeiner Ebene immer unterlegen. Dies hatte ich schon vor einiger Zeit festgestellt.
Als Jack in die Straße gezogen war, hatte ich ernsthaft das Gefühl, er wäre mir gewachsen gewesen. Ich hatte mich irgendwie zu ihm hingezogen gefühlt. Und jetzt ... jetzt war irgendwie alles anders.
Jetzt fühlte ich mich so stark, dass an die Jungs in der Schule gar nicht mehr zu denken war.

"Wenn Gefährten sich gefunden haben, rutscht der eine auf den höheren Rang des jeweils anderen. Also wenn Nolan meine Schwester als Gefährtin anerkennen würde, wäre euer Kampf hinfällig und sie würde im Rang wieder über dir stehen."

Mir huschte ein Gedanke durch den Kopf und noch ehe ich ihn zu Ende denken konnte, kam er schon über meine Lippen.
"Hast du schon deine Gefährtin?"
Kurz warf er mir einen überraschten Blick zu, bevor er sich schnell wieder abwandte und wieder hinaus sah. Seine Augen rasten umher, als schien er nicht zu wissen, wohin er als erstes sehen sollte.
"Nein, habe ich nicht." Er grinste leicht und setzte wieder diese Maske auf, mit der er sich vor anderen verbarg, bevor er mich ansah.
"Warum fragst du? Hast du Angst deinen neuen Rang gleich wieder zu verlieren? Oder wolltest du wissen, wie es um meinen Beziehungsstatus steht und ob du es noch versuchen könntest?"
Seine Augenbrauen zuckten leicht, als er mich herausfordernd ansah.
Allein für diese Aussage in Kombination mit seinem Grinsen, hätte ich ihm am liebsten das Gesicht zerkratzt.
Rot wie eine Tomate, geriet ich irgendwie in Erklärungsnot.
"Äh ... nein ... Ich war bloß neugierig. Es hätte ja sein können, ich treffe noch ein ranghöheres Mitglied und merke es nicht. Dann bekomme ich gleich am ersten Tag den Hintern versohlt, nur weil ich mich nicht passend verhalten habe."
Glücklicherweise schien diese Aussage so glaubwürdig, dass ich selbst anfing sie zu glauben.
Er lachte auf und seine Augen glitzerten während er ohne ein weiteres Wort den Wagen startete und zurück auf die Straße fuhr.

Wir fuhren schon eine ganze Weile durch die Dunkelheit, als Ryan wieder das Wort ergriff.
"Nach dir kommen im Rang Jasmina und Ally und unter ihnen die restlichen Frauen. Ally ist die beste Freundin meiner Schwester. Es wäre also ratsam, dich mit ihr gut zu stellen. Sie hat eine Menge Einfluss, weil sie eine der wenigen ist, die in das Rudel hineingeboren wurden."
"Macht es einen großen Unterschied, ob man als Wolf geboren oder verwandelt wird?"
Er nickte mit grimmigen Gesichtsausdruck.
"Ja, wenn du als Gestaltwandler geboren wurdest, hast du diese Instinkte schon bereits im Kleinkindalter. Man entwickelt schneller Kräfte, die Menschenkinder nicht haben. Du baust schneller Muskeln auf, weil dein Körper darauf getrimmt ist, zu überleben. Du musst dich früh gegen andere behaupten.
Ich habe in diesem Alter schon einen Jungen verprügelt, der mir meinen Schokoriegel klauen wollte, als ich Hunger hatte."
Erstaunt sah ich ihn an. Seine Züge waren verschlossen.
Kinder konnten sich prügeln, richtig übel sogar, aber was war daran jetzt anders, dass er es mir erzählte?
"Der Junge hat bis heute Probleme seinen linken Arm zu nutzen."
Oh ...
Ich brachte kein Wort mehr heraus.
Diese Instinkte hatten einen höheren Hemmschwellenwert als meine. Seine waren tierischer. Während er mich durch den Wald jagen und von meinem Dach zerren konnte, konnte ich jemanden so etwas selbst im Traum nicht antun.
Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf.
Trieben diese Instinkte am Verwandlungtag die Gestaltwandler dazu, jemanden zu verwandeln?

Secret of the TimberwolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt