Er sah zu mir.
"Ich hatte nicht gewusst, dass du noch Besuch erwartest.", flüsterte er verdutzt.
"Ich auch nicht.", antwortete ich, ebenso leise, und sah stirnrunzelnd zur Tür.
Wer sollte das denn sein? Und warum jetzt?
"Ich muss nachher noch etwas mit dir besprechen. Ich gehe solange nach oben und warte."
Ich nickte ihm zu und ging zur Haustür.
Weder Emily noch Danielle konnten es sein, denn beide wussten, dass ich krank war. Wer also sollte es sonst sein?
Ich öffnete die Tür und mit der kühlen Luft trat eine dick eingepackte Person ein. Schon am Gang und am Geruch erkannte ich, wer es war.
Ich hätte damit rechnen sollen.
"Brrrr! Ist das kalt!", sagte sie und begann sich aus ihrer Winterjacke und dem dicken Schal zu schälen.
Ein musternder Blick streifte mich und sämtliche Muskeln in meinem Körper verkrampften sich."Na so schlecht siehst du ja gar nicht mehr aus."
Ich seufzte leise auf, während Emily ins Wohnzimmer lief und ihre Tasche dort abstellte, um darin herumzukramen. Ich setzte mich ebenfalls in Bewegung.
"Was machst du hier? Willst du etwa auch krank werden?", fragte ich meine beste Freundin und blieb an der Kücheninsel stehen."So schnell haut mich nichts um. Außerdem brauchst du dein Schulzeug und ein bisschen was, um wieder auf die Beine zu kommen.", konterte Emily.
Sie kramte mehrere Teepackungen aus und legte sie auf das Sofa, bevor sie einen kleinen Stapel Arbeitsblätter heraussuchte.
"Hier. Ich habe dir die Fächer und das Datum drauf geschrieben, damit du alles zuordnen kannst.""Danke. Aber du hättest wirklich nicht kommen brauchen. Du könntest auch krank werden."
"Ach und wenn schon. Meine Geschwister bringen Schlimmeres mit, als das, was du jetzt hast."
"Ich hing in den letzten Tagen und Nächten mit dem Kopf über der Kloschüssel. Ich bin froh, dass ich mich heute mehr als zehn Meter von meinem Bett und dem obrigem Bad entfernen kann.", argumentierte ich. Im Grunde genommen war es ja nicht gelogen, nur eben nicht die komplette Wahrheit.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber ich wollte sie auch nicht hier haben. Schon gar nicht, wenn in der oberen Etage meines Hauses der Alphawolf lauerte und besonders nicht, wenn sich mein Wolf plötzlich zu erkennen geben könnte. Ryan meinte, ich wäre noch in einem kritischen Zustand in dem man mit den Verwandlungen und deren Kontrolle noch zu kämpfen hatte.
Ich musste sie irgendwie aus dem Haus bekommen, ohne sie zu verärgern."Hey ich danke dir wirklich, aber ich wollte gleich wieder ins Bett, um mich auszuschlafen. Ich müsste nächste Woche wieder fit für die Schule sein."
Kritisch beäugte sie mich eh sie sich abwandte, um ihren Rucksack zu schließen. Nervös knetete ich meine Hände.
Würde sie den Köder schlucken?
Ich wusste die Situation nicht einzuschätzen. Ich hatte noch nie ein Geheimnis vor ihr gehabt und sie spürte bestimmt, dass etwas nicht stimmte.
"Na schön. Aber bevor du schlafen gehst, trinkst du bitte einen der Tees. Das müsste helfen, damit du mir Montag wieder Gesellschaft leisten kannst. Ich hasse es, allein zu sein.", murrte sie und ging zurück zur Haustür, um sich dort wieder in den Eskimo zu verwandeln, als der sie eben erst eingetreten war. Ihre Hand lag an der Türklinke, als sie noch einmal misstrauisch zu mir sah. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, verkniff es sich dann jedoch und verschwand ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.Mit gerunzelter Stirn blieb ich zurück. Sie ahnte bestimmt etwas, aber was sollte ich ihr sagen? "Ich kann nun selbst zum Wolf werden?" Sie würde mich für verrückt erklären und dann den Beweis verlangt. Ich wandte mich zur Treppe zu, um hochzugehen. Draußen sprang ein Auto an und fuhr davon. Ich seufzte leise und folgte Ryans Geruch in mein Zimmer.
Dort saß er im offenen Fenster und sah mir entgegen, als ich eintrat."Du wolltest noch etwas mit mir besprechen?", harkte ich nach und setzte mich in den Sessel, der neben den Fenster stand.
"Ja. Mir ging schon die ganze Zeit etwas durch den Kopf, das ich dir noch sagen muss."
Sein Blick hing in der Ferne, weit draußen im Wald, während er leicht seine Finger massierte.
Ich blinzelte verwirrt und spürte einen Moment später, wie meine Wangen warm wurden. Was zum Geier wurde das jetzt? Ich versuchte dieses leichte Kribbeln, diese Aufregung, in meinem Bauch zu unterdrücken und so gefasst wie nur möglich zu bleiben, mich innerlich zu wappnen. Ich kannte ihn gerade erstmal ein paar Tage. Was wurde das also jetzt?"Und das wäre?", fragte ich ruhig, obwohl gerade alles in mir Kopf stand.
Er richtete seinen Blick auf mich, was mich ein weiteres Mal fast aus der Bahn warf. Die grünen Augen hatten einen dunklen Ton angenommen.
"Ich wollte dir noch sagen, dass es mir leid tut."
Für einen kurzen Moment stand die ganze Welt still. Was? Was überhaupt?!?Ratlos sah ich ihn an. Offenes Bedauern lag in seinem Blick.
"Dass ich dir keine Wahl gelassen hatte. Dass ich dich verletzt hatte. Dass du nicht mehr normal bist und es niemals wieder sein kannst, so, wie du es dir erhoffst."
Das Durcheinander in mir wurde plötzlich still. Aus dem Chaos bildete sich ein Gefühl der Trauer.
Er leugnete es nicht, dass ich keine wirkliche Chance mehr hatte, ein völlig normales Leben zu führen. Grimmig trieb ich die Trauer zurück und zuckte mit den Schultern.
"Es ist, wie es ist. Nichts davon lässt sich ändern. Ich werde schon irgendwie damit leben können."
Er nickte leicht, wie um zu registrieren, dass ich das Alles akzeptiert hatte.Klar wäre es schön gewesen, wenn ich an dem Tag einfach normal, wie immer zuhause angekommen wäre, doch scheinbar hatte das Schicksal andere Pläne mit mir. Ryan stand auf und ich hob ruckartig den Blick, um ihn anzusehen.
"Ich muss so langsam los. Das Rudel wartet.", erklärte er und stieg hinaus auf das Verandadach, während entfernt im Wald ein Wolf zu heulen begann. Er stand auf dem Dach der Veranda und sah nach unten, um abzuschätzen wie hoch es lag. Er würde doch nicht einfach hinunterspringen, oder? Andererseits, war vieles was ich für unmöglich gehalten hatte, wahr geworden. Eigentlich sollte es mich nicht wundern, wenn er es tatsächlich tun würde.
"Ja und ich muss noch das Schulzeug machen.", sagte ich und er lächelte mich schief an.
"Na dann wünsche ich dir viel Spaß."
Ich erwiderte sein Lächeln und sah leicht erschrocken zu, wie er vom Dach sprang, im Schnee landete und in den Wald lief.
Seufzend schloss ich das Fenster wieder und ging nach unten, um die Schule für heute abzuschließen.
Ich nahm Emilys gesammelte Papiere und sah sie durch, blieb jedoch irgendwann an einem Blatt mit rotem Klebezettelchen hängen."Lag miteingerollt in der Zeitung. Scheint ernst zu sein.", stand auf dem rotem Papier. Es war zweifelsohne Emilys Schrift auf dem Blättchen.
Ich sah mir das Blatt an... las es einmal durch... zweimal... und begriff kaum, was dort stand. Mein Herz pochte wie verrückt in meiner Brust, als sich die Erkenntnis langsam in mir festsetzte.
"SCHEISSE!", entschlüpfte es mir, bevor ich aufsprang, mir im Eiltempo meine Schuhe und Jacke anzog und durch die Verandatür hinaus in den Wald rannte.
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Secret of the Timberwolves
WerewolfNie hätte ich einen Fuß in diesen Wald gesetzt, wenn ich damals das gewusst hätte, was ich heute weiß. Nie hätte ich vermutet, dass sie mich als Beute auswählen. Doch heute, am dritten Tag, nach meinem Krankenhausaufenthalt, bemerkte ich es erneut...